100 Jahre Thüringen
Staatskanzlei Thüringen Weimarer Republik e.V. Forschungsstelle Weimarer Republik an der Uni-Jena

Bildung braucht die Frau

Die Akademie der Arbeit in Frankfurt am Main versteht sich als gehobene Einrichtung für Erwachsenenbildung, die besonders Arbeiter und – wie die Frauenrechtlerin Henriette Fürth (SPD) in diesem Artikel betont – auch Arbeiterinnen richtet.

Vorstand des Vereins "Weibliche Fürsorge" im Jahr 1904 (Fürth in der vorderen Reihe, 2. v. R.)

Die Akademie der Arbeit und die Frauen

Hätte es  noch eines Beweises für die unverwüstliche Innenkraft unseres Volkes bedurft, so hätte die Gründung der ersten deutsche Arbeiterakademie in Frankfurt a. M. diesen Beweis erbracht. Inmitten eines Niederbruchs ohnegleichen, inmitten einer schweren Notlage und eines schier unertragbaren Druckes von außen hat die deutsche Arbeiterschaft sich zu einer Kulturtat aufgerafft, die, selbst wenn sich nur ein Teil der in die gesetzten Hoffnungen erfüllt, zu einem Markstein und Ausgangspunkt wissenschaftlicher Reifung, kultureller Hebung und wirtschafts- und staatspolitischer Schulung der schaffenden Massen zu werden verspricht.

Den Arbeitern, bislang Bettlern am Tische der Wissenschaft, soll nun das Mahl bereitet werden, das sie zu Kulturträgern machen und sie befähigen soll, aus eigener Kraft und Verantwortung die Leitung des Gemeinschaftslebens in allen seinen Teilen und Beziehungen übernehmen zu können.

So ist der Grundstein gelegt. Nun aber gilt es, das Verständnis für die kulturelle Großtat, die sich in aller Stille vollzogen hat, in die Massen hinauszutragen und sie der tätigen Teilnahme an dieser Schöpfung einmal als Lernende, zum andern als Geldgeber zu gewinnen.

Dieser Ruf richte sich in erster Linie an die Frauen. Auch wir Frauen sind nicht länger vom Tische des Lebens und des Wissens ausgeschlossen. Verfassung und Gesetz haben uns die Gleichberechtigung mit den Männern auf manch einem Gebiet, ganz gewiß aber auf dem vorliegenden. Verfassung und Gesetz sind aber nur tönende Worte, sind Formen ohne Inhalt. So wird es an den Frauen sein, ihnen den rechten Inhalt zu geben, der formalen Gleichberechtigung auch die materielle, der Theorie die Praxis zuzugesellen. Das kann und wird aber nur dann geschehen, wenn der Gleichberechtigung auch die Gleichbefähigung entspricht, wenn man uns Frauen nicht immer und immer wieder sagen darf: „Laßt die Finger davon! Von diesen Dingen versteht ihr nichts!“ So wollen, so müssen wir verstehen lernen, um unseretwillen; denn wir sind Menschen und wollen Persönlichkeiten werden. Um unserer Kinder willen; denn wir sind Mütter und wollen Erzieherinnen sein können. Um des Gemeinwohls willen; denn wir sind Staatsbürgerinnen. Als solche müssen wir alle Verantwortungen mittragen. Darum wollen wir uns die Verantwortungsfähigkeit an denselben Quellen holen wie die Männer. Wir wollen und müssen die Fähigkeit erwerben, als Mütter, als Hausfrauen, als Sozial-, Wirtschafts-, Gewerkschafts- und Kommunalbeamtinnen unseren Platz auszufüllen, unsere Schuldigkeit zu tun.

Die Arbeiterakademie steht auch uns offen. Gehen wir denn hinein. Ihr gewerkschaftlich, politisch und sozial organisierten Frauen, sorgt dafür, daß möglichst viele aus unseren Reihen als Lernende an diese neue Bildungs- und Kulturstätte entsandt werden! Delegiert selbst, soweit ihr reine Frauenorganisationen seid. Sorgt dafür, daß aus den gemischten Organisationen mindestens soviel Frauen an der betreffenden Organisation entspricht, als Studierende zur Arbeiterakademie entsandt werden. Und bringt Opfer dafür gleich den Männern! Es gibt Millionen und Millionen arbeitender Frauen; wenn jede von ihnen im Jahre nur eine einzige Mark (nicht so viel, wie heute eine Tasse Kaffee draußen kostet) hingibt, so können jährlich hundert und mehr Frauen ausgebildet und zur Erfüllung all der schweren und künftig erwachsenden sozialen, wirtschaftlichen, erziehlichen, politischen und Selbstverwaltungsaufgaben tauglich gemacht werden.

Auch unter den Frauen ist eine große Sehnsucht nach allseitiger Vertiefung und Lebenserfüllung, nach wertschaffender und wertvoller Arbeit im Dienste der Gemeinschaft und des Gemeinwohls wach geworden. Das beweisen die in Verbindung mit Volkshochschulen gebildeten Arbeitsgemeinschaften für Frauen, in denen unter regster Anteilnahme aller Frauenkreise die vertiefende Schulung zu erreichen versucht wird, die die Arbeiterakademie in systematischer Durchbildung zu geben unternimmt. Darum noch einmal, ihr Genossinnen: Sorgt dafür, daß möglichst viele aus unseren Reihen der Segnungen dieser neuen Bildungsstätte teilhaftig werden können!

Henriette Fürth.

Quelle:

Das Volk vom 6.4.1921

In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00226548/Das_Volk_1921_04_0574.tif?logicalDiv=jportal_jpvolume_00192373

 

Bild:

Outdoor group portrait of the women on the first board of the Weibliche Fuersorge (Care for Women Society); Frankfurt am Main (3507968224) - Henriette Fürth – Wikipedia