100 Jahre Thüringen
Staatskanzlei Thüringen Weimarer Republik e.V. Forschungsstelle Weimarer Republik an der Uni-Jena

Linderung der Wohnungsnot in Sicht?

Nach dem Ersten Weltkrieg ist Wohnraum ein extrem knappes Gut. Die daraus entstandene Wohnungsnot wird seit Jahren beklagt, aber ein geeignetes Rezept zu ihrer Beseitigung ist bislang nicht gefunden worden. Der Reichstagsabgeordnete Oskar Maretzky (DVP) kritisiert den neuesten Vorstoß der Reichsregierung und fordert eine privatwirtschaftliche Lösung.

Karikatur des Simplicissimus

Reichsmietsteuer und Wohnungsnot.

Von Bürgermeister Dr. Maretzky, M. d. R.

Es besteht bei allen Parteien darüber Einigkeit, daß es notwendig ist, durch Aufwendung bedeutender Mittel die im Reiche herrschende Wohnungsnot zu lindern und auf diese Weise gleichzeitig die wachsende Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.

Durch eine Abgabe von jährlich 10 Prozent vom Mietwert der Wohnungen und gewerblichen Räume, die zwanzig Jahre lang im allgemeinen je zur Hälfte von den Ländern und Gemeinden erhoben werden soll, glaubt man die Verzinsung und Tilgung eines Beitrages von 3,2 Milliarden aufbringen zu können. Diese Summe von 3,2 Milliarden, die man von der Mietsteuer erwartet, soll für die Herstellung von Wohnungen in den nächsten zwei Jahren bereitgestellt werden. Außerdem stellt das Reich 1,5 Milliarden, die durch die Kohlenabgabe späterer Jahre gedeckt werden, und 700 Millionen, die durch die diesjährige Kohlenabgabe aufgebracht werden, zur Verfügung. Im ganzen sind es also 4,5 Milliarden, mit denen man als öffentlichen Zuschüssen für den Bau von Wohnungen in der nächsten Zeit rechnen darf. Die Mietabgabe soll auf die vor dem 1. Juli 1918 fertiggestellten Gebäude beschränkt sein. Dadurch will man die bei diesen Gebäuden mit dem allmählichen Abbau der Höchstmietenbegrenzung erwartete Wertsteigerung für die Zwecke der Allgemeinheit im voraus in Beschlag nehmen und für den Bau neuer Wohnungen flüssig machen.

Mit Hilfe des Gesamtbetrages von 4,5 Milliarden werden etwa 100.000 neue Wohnungen gebaut werden können. Dabei legt man als Baukosten für einen Quadratmeter benutzbarer Fläche 1.000 bis 1.200 M. zugrunde. Man nimmt ferner an, daß etwa 200 Proz. der Baukosten der Vorkriegszeit durch den Mietertrag aufgebracht werden müssen, so daß etwa ein Betrag von 700 bis 750 M. für den Quadratmeter durch öffentliche Zuschüsse gezahlt werden sollen, wird sich der für eine Wohnung zu gewährende öffentliche Zuschuß auf 50.000 M. belaufen, so daß durch die zur Verfügung stehenden Mittel der Bau von rund 100.000 Wohnungen ermöglicht werden kann.

Wenn auch die Wohnungsnot in den Städten und besonders in den großen Industriezentren groß ist und hier die Bautätigkeit ungesäumt einsetzen muß, so hat der mit dem Gesetzentwurf befaßte Ausschuß des Reichstages doch mit Recht eine Entschließung gefaßt, die die Reichsregierung ersucht, einen erheblichen Teil, etwa ein Drittel, der öffentlichen Zuschüsse für die Förderung der Wohnungssiedlung auf dem Lande zu verwenden. Es kann kein Zweifel bestehen, daß die ländliche Siedlung bei der Wirtschaftslage unseres Landes die dringendste Förderung erfahren muß. Es kommt darauf an, unser wohnungsuchendes Volk dort anzusiedeln, wo es Arbeit findet, und wo Arbeitskräfte im Interesse der Gesamtwirtschaft in erster Reihe gebraucht werden. Der Wegfall der polnischen und galizischen Saisonarbeiter und die Einführung der geminderten Arbeitszeit auf dem Lande hat einen sehr bedenklichen Mangel an Arbeitskräften und als Folge dieses Mangels vielfach eine Einschränkung der Produktion zur Folge gehabt. Daß diese Verminderung der ländlichen Produktion das wirtschaftlich Ungünstigste ist, was bei dem Sturze unseres Geldwertes und der Einengung unserer industriellen Betätigung durch die Entente eintreten könnte, liegt auf der Hand. Eine großzügige Unterstützung des Wohnungsbaues auf dem Lande kann hier helfen, den erforderlichen Ausgleich zu schaffen.

[…]

Es ist also zu befürchten, daß der vom Ausschuß verabschiedete Gesetzentwurf in der Praxis nicht die von ihm erwarteten Ergebnisse haben wird, weil die Unkosten, die die Veranlagung der Steuer verursacht, unverhältnismäßig groß sein werden. Es wäre daher zu erwägen, ob es nicht richtiger ist, die Steuer wieder in Form der Zuschlagssteuer zu bereits bestehenden Abgaben zuzulassen und ferner die Befreiungsvorschriften so zu gestalten, daß ihre schnelle und glatte Durchführung ermöglicht wird. Zu diesem Zwecke dürfte die Befreiung von der Steuer nicht an bestimmte Einkommensgrenzen gebunden sein, es müßte vielmehr als ausreichend angesehen werden, die Befreiung allgemein auf Antrag in dem Falle zuzulassen, daß die Prüfung der wirtschaftlichen Lage des betroffenen Steuerzahlers die steuerliche Vergünstigung erforderlich erscheinen läßt! Sicherlich ist es populärer, schlechthin alle diejenigen, deren Einkommen eine bestimmte Grenze nicht übersteigt, freizulassen. Es könnte auf den ersten Blick auch scheinen, als wenn diese Art der Steuerbefreiung sozialer wirke. Berücksichtigt man aber, daß eine solche Ausgestaltung des Gesetzes dessen Durchführung ernstlich gefährdet und zum mindesten die entstehenden hohen Unkosten den Ertrag der Steuern außerordentlich schmälern, und bedenkt man, daß damit Tausenden von Volksgenossen, die unter der Wohnungsnot auf das schwerste leiden, und Zehntausenden von Arbeitern, die unter der Arbeitslosigkeit seufzen, die Hoffnung auf Wohnung und Arbeit genommen wird, so kann kein Zweifel bestehen, daß der sozialer und volksfreundlicher handelt, der dem Gesetz die Form und den Inhalt gibt, die seinem wahren Zweck entsprechen. Denn selten handelt der im wahren Interesse des Volkes, der sich einem volkstümlichen Schlagwort beugt.

Die endgültige Befreiung aber von der Wohnungsnot wird uns erst dann werden, wenn in Verbindung mit der Konsolidierung der Geld- und Arbeitsverhältnisse der planmäßige, allmähliche Abbau der Zwangswirtschaft auch auf diesem Gebiete durchgeführt sein wird!

Quelle:

Allgemeine Thüringische Landeszeitung vom 7.4.1921

 

Bild:

26_07.pdf (simplicissimus.info)