100 Jahre Thüringen
Staatskanzlei Thüringen Weimarer Republik e.V. Forschungsstelle Weimarer Republik an der Uni-Jena

Österreichs Anschlusswille

Während Ungarns Außenpolitik an der Errichtung eines Groß-Ungarn inkl. einer Annektion der mehrheitlich ungarischsprachigen Grenzgebiete arbeitet, sucht Österreich sein Heil in einem Anschluss an das Deutsche Reich. Ein spezifisch österreichischer Nationalismus existiert zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wie dieser Artikel zeigt.

Der österreichische Sozialdemokrat Ludo Hartmann (1865-1924)

Großdeutschland.

(Von unserem Berliner Mitarbeiter.)

Während in Ungarn die Legitimisten eine Königskrone blankputzen, deren Träger nicht aufhören könnte, ein neues Donaureich zu erstreben, bekennen sich die von Habsburg unmittelbar oder mittelbar bedrohten, wirklich zusammengehörigen Länder, bekennen sich Deutschland und Deutsch-Oesterreich zu der Gemeinsamkeit ihres Volkstums.

Am letzten Märztag hat der Präsident des deutschen Reichstags den Vorsitz im österreichisch-deutschen Völkerbund übernommen. Diese Kundgebung deutschen Gemeingefühls, schon als Tatsache von stärkster Wirkung, wird von Professor Ludo Hartmann, dem unbeirrbaren Kämpfer des Anschlußgedankens, noch durch besondere Mitteilungen erläutert. Am 24. April wird Tirol, zur gleichen Zeit Salzburg, etwas später werden auch Ober- und Niederösterreich und Steiermark sowie die Stadt Wien über den Ausdruck ihrer Zugehörigkeit zu Gesamtdeutschland abstimmen. Die Berliner Kundgebung vom 31. März ist ein Vorklang des nicht zweifelhaften Ergebnisses.

Es ist kein Zufall, daß diese Kundgebung zeitlich mit dem Abenteuer Karls von Habsburgs zusammenfällt. Gerade weil das Unternehmen des früheren Königs doch mehr ist als die „Leharsche Operette“, als die es Ludo Hartmann bezeichnete, weil es für die Entscheidungsunabhängigkeit der österreichischen Deutschen eine sehr ernste Gefahr ist, durfte Deutschland, durfte Deutsch-Oesterreich nicht länger zöchern, vor aller Welt seinen Willen kund zu tun.

Die Willenserklärung ist unabhängig von den tatsächlichen Hindernissen, die sich dem „Anschluß“ heute und morgen entgegenstellen. Die Reichsregierung kennt diese Hindernisse so gut, wie die deutsch-österreichische Bundesregierung sie kennt. Hinter dem Thronpräsidenten Karl steht, die Gönnerschaft mit amtlichem Einspruch nur lose verhüllend, Frankreich. Die Friedensverträge von Versailles und St. Germain fordern die „Selbständigkeit“ Deutsch-Oesterreichs – und mindestens Frankreich ist einstweilen entschlossen, diese Selbständigkeit zwar nicht nach Südosten, wohl aber nach Norden hin mit allen Mitteln zu wahren. So lange der Mächteverband an diesem Punkte der Friedensverträge festhält, kann weder Deutsch-Oesterreich den Anschluß vollziehen, noch Deutschland ihn herbeiführen; gibt es staatsrechtlich keinen Weg als den über einen Beschluß des Völkerbundes und damit die Zustimmung Frankreichs. Das alles wissen wir. Dennoch …

Deutsch-Oesterreich bereitet nicht, wie die Habsburger, einen Staatsreich vor; Deutschland hat niemals daran gedacht, die Volksgenossen sich „anzugliedern“; die Abstimmungen in den einzelnen deutsch-österreichischen „Ländern“ haben weder den Zweck, noch können sie das Ergebnis haben, die Einheit des in St. Germain erzwungenen Staatsgebildes zu sprengen oder den Anschluß des Ganzen gewaltsam durchzusetzen. Sie sind die Feststellung der Tatsache, daß die ungeheure Mehrheit der „Oesterreicher“ sich dem deutschen Volkstum zugehörig fühlt, daß sie zu Deutschland will und daß nur Zwang von außen ihnen die Heimat vorenthält; nicht mehr und nicht weniger. Wenn der Bundespräsident Mayr das etwas kalte Wort gesprochen hat, der Anschluß sei eine Frage, die nicht von Deutsch-Oesterreich aus, sondern nur zwischen Berlin und dem Mächteverband erledigt werden könne, so ist das nur insofern richtig, als die äußeren Hemmungen nicht anders als durch Verständigung Deutschlands mit dem Völkerbund und seinen einspruchsberechtigten Mitgliedern zu beseitigen sind. Wie aber kann der Völkerbund überzeugt werden, wenn ihm nicht durch das Ergebnis der Abstimmung bewiesen wird, daß sechs Millionen Menschen die Vereinigung wollen, daß sechs Millionen Menschen die Vereinigung wollen, von der sie wider Recht und Notwendigkeit ausgeschlossen sind? Wir fordern Recht und nicht Macht. Die uns alles entzogen, was als nicht deutsch galt, können uns das ganze Deutschland nicht weigern.

Quelle:

Jenaer Volksblatt vom 5.4.1921

In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00273857/JVB_19210405_078_167758667_Be_001.tif?logicalDiv=jportal_jpvolume_00371300

 

Bild:

Ludo Moritz Hartmann - Ludo Moritz Hartmann – Wikipedia