Englands Interessen im Osten
Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges traten die Ministerpräsidenten Frankreichs und Englands – Alexandre Millerand und David Lloyd George – zunächst als Unterstützer der Polen auf. Im Verlauf des Polnisch-Sowjetischen Krieges und den diplomatischen Bemühungen zu dessen Beendigung entfernte sich vor allem Lloyd George aber von seiner ursprünglichen Position. Für das Jenaer Volksblatt analysiert Heinrich Gerland diese Entwicklung und vermutet dahinter die geopolitischen Interessen der Briten.
Zur Politik der Woche.
Von Professor Gerland.
Die Woche war reich an Überraschungen, und die Entwicklung der russischen Krisis hat eine Wendung genommen, die man zu Beginn der Woche in der Tat für unmöglich gehalten hätte. Wir hatten bereits früher darauf hingewiesen, daß zwischen Millerand und Lloyd George gewisse Differenzen über das russische Problem entstanden waren. Diese Differenzen sind nunmehr klar zutage getreten. Anfang der Woche hatte bekanntlich eine Besprechung zwischen den englischen und französischen Staatsmännern stattgefunden. Auf Grund derselben war eine offizielle Mitteilung an die Presse gegeben, wonach die offiziellen Stellen der alliierten Mächte über die in der politischen Frage zu unternehmende Aktion sich in völligem Einverständnis befänden. Auf Grund der Besprechungen gab dann Lloyd George im Unterhaus Erklärungen ab, von denen man in der Tat annehmen konnte, daß sie zu einer Verständigung mit Sowjet-Rußland führen würden. Lloyd George erklärte zunächst, daß Rußland zu seinem Kampf gegen Polen berechtigt gewesen sei, da Polen trotz der alliierten Warnung den Angriff gegen Rußland unternommen habe. Sei so die Sowjetregierung berechtigt, Sicherheiten gegen eine Wiederholung derartiger Fälle zu fordern, so habe sie jedoch in seinem Falle das Recht, dem unabhängigen Bestehen Polens ein Ende zu bereiten. Das einzige Ziel der Alliierten sei, einen Frieden auf der Grundlage der Unabhängigkeit des ethnographischen Polens herbeizuführen. Die Alliierten seien sich einig geworden, Polen aufzufordern, über einen Waffenstillstand zu verhandeln und Frieden zu schließen, so lang eben die Unabhängigkeit des ethnographischen Polens anerkannt werde. Würde Rußland sich nicht auf diesen Standpunkt stellen, so würde sich ein schwieriger Zustand ergeben. Die Alliierten könnten sich dann in der Frage über das Bestehen Polens nicht zurückhalten. Denn es würde eine Gefahr für die Aufrechterhaltung des Friedens in Europa entstehen, wenn ein aggressives Sowjet-Rußland bestände, das an Deutschland grenze.
Die Ausführungen Lloyd Georges sind von allergrößter Tragweite. Erstens bedeuten sie wiederum einen glatten Rückzug vor der russischen Politik. Ob Lloyd George durch die immer drohendere Haltung der englischen Arbeiter hierzu veranlaßt ist, oder ob ihn das für das englische Imperium ausschlaggebende asiatische Problem unter allen Umständen nötigt, Frieden mit Sowjet-Rußland zu bekommen und zu erhalten, mag dahingestellt bleiben. Tatsache ist, daß alle Forderungen, die England noch vor kurzer Zeit mit Emphase durch Lloyd George an Rußland hat stellen lassen, hier aufgeben werden. Es ist das eingetreten, worauf wir von Anfang an hingewiesen haben: Lloyd George verhandelt und denkt nicht daran, Englands Machtstellung für die Selbstständigkeit Polens zu riskieren. Ferner, und das ist der zweite grundlegend wichtige Punkt in der Lloyd Georgeschen Rede, es wird nicht mehr von Polens Unabhängigkeit schlechthin gesprochen, sondern es taucht ein neuer Begriff auf, wie wir in Deutschland mit lebhaftem Interesse feststellen müssen. Lloyd George erklärt, die Alliierten verbürgten sich nur für die Unabhängigkeit des ethnographischen Polens. Nun ist aber zweifellos das ethnographische Polen nicht identisch mit dem Polen des Friedens von Versailles. Und die Rede Lloyd Georges verkündet eigentlich den Zusammenbruch eben dieses Friedens. Selbstverständlich entsteht die Frage der deutschen, von Polen annektierten Gebiete aufs neue, und wenn Polens Selbstständigkeit nur in Grenzen der ethnographischen Verhältnisse aufrechterhalten bleiben sollen, so dürfte die Frage von größter Bedeutung werden, ob etwa der preußische Korridor, ob Danzig zu diesem ethnographischen Polen gehört oder nicht.
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Quelle:
Jenaer Volksblatt vom 16.8.1920
In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00273663/JVB_19200816_191_167758667_B1_001.tif
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/David_Lloyd_George#/media/Datei:David_Lloyd_George,_1st_Earl_Lloyd-George_of_Dwyfor_-_Detail.jpg