Steuersabotage!
Die Nachkriegswirtschaft in Deutschland sah sich großen Herausforderungen gegenüber. Die Ankurbelung der Konjunktur, die Arbeitslosigkeit und die Verpflichtungen gegenüber den Alliierten – in diesem Zusammenhang erscheint der Appell an die Bürgerschaft, sich nicht der „Steuersabotage“ hinzugeben, umso dringlicher.
Der Kampf um den Steuerabzug.
Man ist in der heutigen Zeit nur zu leicht geneigt, zu vergessen, daß dem Recht auf Koalition und Streit zur Erzielung besserer Arbeits- oder Lohnbedingungen auch die Pflicht zur Arbeit gegenübersteht. Denn heute handelt es sich nicht bloß um diese oder jene Kategorie von Arbeitern, die durch die augenblickliche wirtschaftliche Konjunktur benachteiligt ist, sondern wir haben es mit einem schwer erschütterten Wirtschaftsleben überhaupt zu tun, und es handelt sich überdies um den wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas, in dem die Arbeit und das ungestörte wirtschaftliche Getriebe eines so großen Wirtschaftskörpers, wie Deutschland, nicht fehlen darf, wenn dieser Aufbau überhaupt gelingen soll. Aus diesem Grunde ist jeder leichtfertig, aus den wesenslosesten politischen Mißverständnissen oder Machtansprüchen vom Zaun gebrochene Ausstand als ein Verbrechen am deutschen Volk und Staat aufs Schärfste zu verurteilen. Ganz dasselbe gilt auch für die Ausstände und beklagenswerten Unruhen und Ausschreitungen, die an zahlreichen Orten und namentlich an großen Betriebsstätten mit einer mehrtausendköpfigen Arbeiterschaft anläßlich des Steuerabzuges vom Lohn hervorgerufen werden.
Mehrfach hat man schon mit brutalster Gewalt, durch gewalttätige Mißhandlung der Betriebsleiter die Zurücknahme des Steuerabzuges erzwungen. Es ist kalt, daß eine derartige Steuersabotage zum Zusammenbruch unseres ganzen Steuersystems und damit unserer Finanzwirtschaft überhaupt führen müßte, und der Reichsfinanzminister hat denn auch seinen Zweifel gelassen, daß die Regierung dieser Steuerverweigerung nicht untätig gegenüberstehen kann, wenn sie sich nicht mitschuldig machen soll an dem Bankerott der deutschen Wirtschaft. Es ist nun einmal nicht zu umgehen, daß jeder deutsche Staatsbürger ohne Ausnahme sein Scherflein beiträgt zur Ordnung unserer Finanzen, und die Arbeiterschaft ist auch im allgemeinen heute so gestellt, daß sie den Abzug zu ertragen vermag, so wenig angenehm er auch, wie jede Steuer, ist. Ganz gewiß ist aber die Zahlung der Steuer in wöchentlichen Noten eine Erleichterung. Nach dem verlorenen Krieg und bei der zerrütteten Wirtschaft sind nun einmal höhere Steuern unvermeidlich, und durch gewalttätigen Widerstand dagegen, durch Steuersabotage verschlimmert man nur den Zustand, verhindert die Gesundung des Wirtschaftslebens. In dieser Erkenntnis hat denn auch die württembergische Regierung entschlossen zugegriffen und die Schließung der großen Werkstätten von Daimler in Untertürkheim, Rosch in Stuttgart und der Maschinenfabrik Eßlingen verfügt, als die Verhandlungen mit den Betriebs- und Arbeiterräten wegen des Steuerabzuges ergebnislos verliefen und mit gewalttätigen Widerstand dagegen gedroht wurde. Jetzt sollen die Betriebe solange geschlossen bleiben, als die Durchführung des Steuerabzuges mit Gefahr für die damit befaßten Vertreter und Angestellten der Betriebe und für die Betriebsanlagen selbst verknüpft ist. Etwa 15- bis 20 000 Arbeiter werden damit brotlos, und die deutsche Produktion für längere Zeit gestört und unterbunden. Und wie es in Württemberg geht, so wird es wohl bald in Preußen, in Sachsen und Bayern kommen müssen, wenn die Arbeiterschaft nicht rechtzeitig zur Besinnung kommt und sich lossagt von den gewissenlosen Hetzern, die im Trüben fischen möchten und Unruhen brauchen, damit ihr Weizen blüht. Die Arbeiterschaft darf doch nicht vergessen: Es ist ja ihr eigener Staat, den sie mit der Steuersabotage ruinieren.
Quelle:
Jenaer Volksblatt vom 28.8.1920
In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00273674/JVB_19200828_202_167758667_B1_002.tif?logicalDiv=jportal_jpvolume_00371095
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Daimler-Benz#/media/Datei:Daimler-motoren-gesellschaft-1911.jpg