100 Jahre Thüringen
Staatskanzlei Thüringen Weimarer Republik e.V. Forschungsstelle Weimarer Republik an der Uni-Jena

Aufraffen zur Mitarbeit

Rudolf Oeser (DDP) – seines Zeichens Eisenbahnminister in Preußen – reflektiert anlässlich des Neujahres über die junge Republik, deren wirtschaftliche und politische Genesung er herbeiwünscht. In einer Demokratie könne dies aber nur über die tätige Mitarbeit Aller erreicht werden. Eine Botschaft, die durchaus in unsere heutige Zeit passt.

Karikatur des Simplicissimus

Das Jahr der Selbstbesinnung.

Von Staatsminister Oeser, M. d. pr. L.

Ein Jahr der Vertiefung, der Sammlung, der Selbstbesinnung, ein Jahr der Befestigung möge uns das Jahr 1921 werden! Das scheint mir das zu sein, was unser deutsches Volk in allererster Reihe braucht: das Besinnen auf sich selbst, die Heimkehr zu sich, die zu einer seelischen Vertiefung und zu einem Aufraffen führt – zu der Geburt des festen Entschlusses, aus den Trümmern früherer Herrlichkeit ein möglichst erträgliches neues Leben zu gestalten.

Wir haben ja nicht nur den Krieg, wir haben viel mehr verloren, nämlich unsere gesicherte wirtschaftliche, politische und kulturelle Existenz. Das Zutrauen zu unserer eigenen Leistungsfähigkeit, das internationale Ansehen unserer Wirtschaft, unserer Technik, unserer Wirtschaft und Kunst war eines der Mittel der beispiellosen Erfolge, die wir seit Gründung des Reiches in der ganzen Welt erzielten. Friedliche Erfolge, die den Ruhm des deutschen Namens mehrten und Wohlstand brachten. Nun ist dieses Zutrauen geschwunden oder erschüttert; so sehr der Deutsche dazu neigte, im Glücke den Mund etwas voll zu nehmen, so sehr gibt er sich seit dem Zusammenbruch einem hemmungslosen Pessimismus und Kleinmut hin. Der Gegensatz zwischen den langjährigen Siegesnachrichten und dem plötzlichen Zusammenbruch war zu groß und trat zu unmittelbar hervor, um nicht die Seele des Volkes auf das Tiefste zu erschüttern.

Der Kleinmut wird weiter genährt durch das Verhalten der sogenannten Sieger, denen gegenüber wir ohnmächtig sind, wie durch die unsicheren Zustände im Innern. Nur wenige Menschen denken staatsmännisch genug, um sich zu sagen, daß nach jedem Kriege eine schwere Erschütterung der öffentlichen Ordnung und der allgemeinen Moral einzutreten pflegt. Das lehrt die Weltgeschichte auf zahlreichen Seiten! Aber noch niemals gab es einen Krieg von der Ausdehnung und Heftigkeit des Weltkrieges, also ist es keineswegs überraschend, wenn sein verheerender Einfluß auf das menschliche Gemüt sich als tiefergehend erweist, wie der kleinerer Kriege. Denn an ihm war nicht nur Front und Etappe, sondern auch die Heimat in stärkstem Maße mitleidend beteiligt. Er reichte bis an die Grundfesten der Seele bei dem gesamten Volke, wie bei dem Einzelnen. Die Menschen wehren sich gegen die Leiden und sie schlagen in das Extrem über: auf die Jahre der notgedrungenen Entbehrung folgt eine üble, sittlich empfindende Menschen abstoßende Genußsucht. Aber auch das hat es nach anderen Kriegen und Umwälzungen schon gegeben; gegen sie muß eben die Selbstbesinnung aller Besseren wachgerufen werden!

Und wenn wir uns rück- und ausschauend am Jahreswechsel mit diesen Erscheinungen beschäftigen, dann darf doch ganz ehrlich festgestellt werden, wie vieles sich bereits zu einer neuen Ordnung auszugestalten sucht, wie anders dieser Jahresschluß aussieht im Vergleich zu jenem von 1919 oder gar zu dem unheilschwangeren von 1918. Noch belastet Furchtbares alle Gemüter, noch kennen wir den Umfang unserer Friedensverpflichtungen nicht, noch ist unsere Seele aus dem Gleichgewicht gebracht durch die erschütternde Erkenntnis, daß der Friede trotz der uns gemachten Zusicherungen gegen Recht und Gerechtigkeit, gegen Treu und Glauben einfach diktiert worden ist und daß man uns trotz der vertraglich festgelegten Gewähr des Selbstbestimmungsrechtes (Lansings Note vom 5. November 1918) in Wahrheit unfrei gemacht hat. Mit alledem sind wir innerlich noch lange nicht fertig. Es fehlt uns an Kohle, es fehlt uns an Rohstoffen, unser Nahrungsmittelspielraum ist zu eng geworden und noch immer will es nicht gelingen, Wohnungen in dem dringend notwendigen Ausmaß herzustellen. Noch leiden schier alle ehrlichen Kreise des gesamten Volkes an den entsetzlichen Folgen der schweren Geldentwertung. Aber trotz all dieser bedrückenden Umstände sehen wir doch unser Volk allmählich zurückkehren zu seinen eigentlichsten Tugenden, zur Arbeitsamkeit und Tatkraft. Damit werden wir in dem bereits begonnenen Kampfe um den Weltmarkt unsere Stellung trotz der gewaltigen uns bereiteten Hindernisse zurückgewinnen. England, der erste der Siegerstaaten, zählt heute dreimal soviel Arbeitslose wie das durch 27 Feinde niedergezwungene Deutschland! Ist das nicht eine Tatsache von einer hellleuchtenden Kraft, die uns neuen Mut geben kann? Kehrt uns der Wille und die Spannkraft zurück, sollen wir dann verzweifeln? Wie schwer unsere Aufgabe ist, habe ich mir und den anderen niemals verhehlt. Verloren aber sind wir nur – und dann endgültig und vollkommen – wenn wir uns selbst aufgeben; knüpfen wir an das an, was wir zu leisten auch heute noch imstande sind, dann können wir uns aus Schutt und Trümmern wieder sicher emporarbeiten.

Aber wir dürfen nicht anderen vertrauen, sondern nur uns selbst; wir dürfen nicht auf Glücksumstände, auf irgendwelche überraschenden Ereignisse hoffen, wir werden nichts haben, als was wir uns selbst im Schweiße unseres Angesichts erarbeiten. Und wir dürfen es auch nicht abhängig machen davon, ob die Regierung uns helfe, ob dieser oder jener etwa mit gutem Beispiele vorangehe, sondern jeder einzelne muß in sich die Triebkraft haben, selbst zuzugreifen und in dem Kreise, in den ihn das Schicksal gestellt hat, zunächst einmal selbst seine Pflicht tun. Wenn jeder so verfährt, ohne Rücksicht auf andere zu nehmen, dann geht es sicher wieder aufwärts, dann kommen wir auch durch Mehrerzeugung und Wiederbeginn des Wettbewerbs zu dem so heiß ersehnten Preisabbau. Prüfe sich jeder, ob und was er schon beigetragen hat zum Wiederaufbau. Und dann hole er das Versäumte nach!

[…]

Familiengrab von Oeser in Frankfurt am Main

Die Demokratie schließt eine klare und zielbewußte Regierung keineswegs aus, sie erfordert aber eine allgemeine Teilnahme und Mitwirkung bei ihren Aufgaben. Das hat eine Vertiefung, eine Konsolidierung zur Voraussetzung, die von der kommenden Zeit zu erwarten ist, vor allen Dingen auch eine planvolle Erziehung des Volkes zur Demokratie. Gerade daran fehlt es noch! Im heutigen Deutschland ist die Demokratie der einzige sichere und deshalb unentbehrliche Schutz der öffentlichen Ordnung, obgleich ihr auch diese Aufgabe durch die Bestimmungen des Friedensvertrags (Hunderttausendmann-Heer) auf das Aeußerste erschwert wird. Die öffentliche Ordnung ist die Grundlage des Vertrauens, sie ist deshalb der vornehmste Produktionsfaktor, da ohne sie die Wirtschaft nicht in Gang erhalten werden kann. Ihre Aufgabe wird der Regierung weiter erschwert durch die Gegner von rechts und links, die an die Stelle der geordneten Demokratie eine wilde Diktatur setzen möchten. Unnötig zu sagen, daß das neue innere Kämpfe, neue schwere Erschütterungen, neue Störungen des endlich begonnenen Wiederaufbaus bedeutet.

Unser Volk muß endlich beginnnen, realpolitisch zu denken und die gegebenen Machtfaktoren richtig einzuschätzen. Wir können in unserer Lage keine Gefühlspolitik treiben, unsere Politik muß auf das rein Praktische gerichtet sein. Tief bedauerlich ist es, daß weite Kreise noch nicht erkannt haben, wie sehr dieser Volksstaat ihr Staat ist, den sie schützen und hegen müssen, in dem und für den sie zu arbeiten haben. Wenn das Bürgertum das erkannt hat und nicht gegen den Volksstaat arbeitet, wird es sich besser zur Geltung bringen können als je zuvor. Aber nur dann, wenn es sich in Reih und Glied der Demokratie stellt. Und deshalb erscheint eine Selbstbesinnung, eine Vertiefung in die schweren Aufgabe der Gegenwart, ein Aufraffen zur praktischen und tatkräftigen auch opferbereiten Mitarbeit das zu sein, was das kommende Jahr von uns allen in erster Linie erfordert.

Quelle:

Jenaer Volksblatt vom 31.12.1920

In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00273779/JVB_19201231_307_167758667_B1_001.tif?logicalDiv=jportal_jpvolume_00371200

 

Bilder:

http://www.simplicissimus.info/uploads/tx_lombkswjournaldb/pdf/1/25/25_40.pdf

https://de.wikipedia.org/wiki/Rudolf_Oeser_(Politiker)#/media/Datei:Oeser_Rudolf_a.jpg