100 Jahre Thüringen
Staatskanzlei Thüringen Weimarer Republik e.V. Forschungsstelle Weimarer Republik an der Uni-Jena

Deutschlands erstes Volksbegehren gescheitert

Die Weimarer Verfassung sah im Vergleich zu heute ein großes Maß an direkter Demokratie vor. Auf Landesebene waren gleichwertige Verfahren üblich. Doch schon das erste Volksbegehren auf dieser Art zeigt die hohe Polarisierung. Die Rechtsparteien versuchten per Volksbegehren den Münchener Gemeinderat aufzulösen. „Der Deutsche“ aus Sondershausen empört sich jedoch über den Ausgang des Verfahrens.

Verfahrensschema am Beispiel des Entscheides über die Fürstenenteignung 1926

Sozialistischer Terror beim ersten Volksbegehren in Deutschland.

Es ist höchst bezeichnend für die „neue Freiheit“, die uns die Novemberrevolution gebracht hat, daß das erste Volksbegehren in Deutschland sofort durch den Terror der Sozialisten beeinflußt wurde. Diese besondere Errungenschaft der Revolution, das Volksbegehren, wurde also bei ihrer ersten Anwendung durch die Diktaturgelüste der Revolutionsparteien selbst geschändet. Es handelte sich um das Volksbegehren zur Erreichung von Gemeindeneuwahlen in München. Da bei den letzten politischen Wahlen in München 388.758 Stimmen abgegeben sind, hätten für das Volksbegehren die Hälfte davon, also 194.380 Stimmen aufgebracht werden müssen; und da die Sozialisten Stimmenthaltung erklärt hatten, mußte die bürgerliche Einheit  diese Stimmen aufbringen. Bei den letzten politischen Wahlen waren in München insgesamt 184.773 bürgerliche Stimmen gezählt, sonach war das Ergebnis allerdings von vornherein zweifelhaft. Tatsächlich aber wurden für das Volksbegehren nur 179.418 Stimmen abgegeben, es fehlen somit zu der notwendigen Zahl beinahe 15.000 Stimmen. Das heißt also: München behält bis auf weiteres seine sozialistische  Mehrheit in der Gemeindevertretung.

Als Hauptgrund für diesen Ausfall der Abstimmung wird der unverhohlene Terror angegeben, den die Sozialisten ausgeübt haben, um das Volksbegehren zu hintertreiben. Sie hatten durch die von ihnen erklärte Stimmenenthaltung die Möglichkeit, von jedem einzelnen Wähler festzustellen, ob er für die bürgerliche Einheit oder für die Sozialisten war. Wer zur Wahl ging, der gehörte zu denjenigen, die nach dem anmaßenden Schlagwort der Sozialisten, „die Arbeiterschaft provozieren“. Denn es ist ja jetzt unter der „neuen Freiheit“ so, daß dort, wo die Sozialisten noch die Macht in Händen haben, jede Bekundung einer anderen Ueberzeugung als der von den Genossen vorgeschriebenen, als eine „Provokation der Arbeiterschaft“ verschrien wird. So auch in München, wo sie an Einschüchterungsversuchen alles Mögliche leisteten. Es wurden dunkle Gerüchte ausgesprengt, beunruhigende Andeutungen über den von sozialistischer Seite geplanten Kampf gegen das Volksbegehren gemacht, so daß man sich veranlaßt sah, die Abstimmungsräume durch Schutzleute und Sicherheitswehr zu bewachen. Und den Geschäftsleuten wurde für den Fall, daß sie zur Abstimmung gingen, ganz offen der Boykott angedroht. Auf diese Weise gelang es den Sozialisten tatsächlich, viele Wähler einzuschüchtern und ein für sie unerwünschtes Abstimmungsergebnis zu hintertreiben.

Neben diesem Terror trägt die Schuld an dem unerfreulichen Ausfall des Volksbegehrens aber auch die Gleichgültigkeit und Saumseligkeit vieler bürgerlicher Wähler. Wären sie alle zur Abstimmung geeilt, der Sieg wäre errungen worden. Es wäre ja bei starker Wahlbeteiligung auch im „roten Sachsen“ und selbst in Groß-Berlin möglich gewesen, bürgerliche Mehrheiten zu erzielen; daß statt dessen die sozialistischen Parteien ihre Gewaltherrschaft befestigen konnten, dafür hat sich das Bürgertum bei seiner eigenen Wahlfaulheit zu bedanken. Ebenso ist jetzt also wieder in München die Stunde der Befreiung vom roten Joch verpaßt worden, weil die bürgerlichen Schichten nicht auf dem Posten waren! Mag das eine neue Lehre für jeden einzelnen Wähler sein, daß es auch auf seine Stimme ankommt, damit bei künftigen Wahlen solche bedauerlichen und beschämenden Mißerfolge vermieden werden!

Quelle:

Der Deutsche vom 16.12.1920

In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00246778/SDH_19376538_1920_Der_Deutsche_1267.tif?logicalDiv=jportal_jpvolume_00307445

 

Bild:

https://de.wikipedia.org/wiki/F%C3%BCrstenenteignung#/media/Datei:Fuerstenenteignung2.svg