100 Jahre Thüringen
Staatskanzlei Thüringen Weimarer Republik e.V. Forschungsstelle Weimarer Republik an der Uni-Jena

Frieden nach außen, Frieden nach innen

Die Weimarische Landes-Zeitung bringt einen Artikel des kurzzeitigen Ministerpräsidenten von Italien: Francesco Nitti. Der ehemalige Professor für Ökonomie betont den Zusammenhang zwischen einer wirtschaftlichen Gesundung Deutschland und dem Erhalt des Friedens in Europa.

Francesco Nitti (1868-1953)

Der Zwiespalt Europas.

Vom ehem. Ministerpräsidenten Francesco Nitti.

„Europa windet sich in Schwierigkeiten, die von Tag zu Tag wachsen. Das ständige Steigen der Wechselkurse in allen Kontinentalstaaten ist nur eine erschreckende Aeußerung des fehlenden Gleichgewichts. Im Laufe von fünf Jahren sind zum größten Teil die Reserven zerstört worden, welche die Arbeit von Jahrhunderten aufgehäuft hatte. Die wichtigsten Gläubigerländer Europas sind zu Schuldnerländern geworden.

Nachdem die Reserven aufgezehrt waren, wäre hartnäckige Arbeitsanstrengung notwendig gewesen, um die Produktion zu organisieren; dem Krieg hätte der Frieden folgen müssen.

Statt dessen ist ein unerwartetes Phänomen eingetreten, dessen Folgen sich von Tag zu Tag erschreckender zeigen. Diejenigen, welche aus dem Krieg nach langen Lebensjahren zurückgekehrt sind, haben ein intensives Bedürfnis, mehr für ihr Leben auszugeben, und einen ebenso starken Wunsch, weniger zu arbeiten. Die charakteristische Tatsache ist, daß in allen Ländern, wenn auch in verschiedenem Maße, sich die gleiche Erscheinung zeigt. So entspricht einem größeren Produktionsbedürfnis eine geringere Produktion. Darin liegt etwas Unvermeidliches und Notwendiges, das nur die Zeit ändern kann. Vielleicht kann man in fünf oder sechs Jahren unter der Voraussetzung, daß die internationale Politik von geringerer Brutalität und Blindheit beherrscht wird, zu dem Geisteszustand von  vor dem Kriege zurückzukehren.

Diejenigen, welche einer Bevölkerung nach einem großen Erdbeben geholfen haben, wissen, daß der Geisteszustand ein ähnlicher ist. Sofort nach solchen Erdbeben entsteht auch in der ruhigsten Bevölkerung ein Bedürfnis nach intensiverem Leben, ein instinktiver Wunsch nach materiellen Vergnügungen, und eine Art Abneigung gegen jede Arbeit. Der Krieg, aus dem wir herausgekommen sind, ist für Europa ein solches Erdbeben gewesen. Europa befindet sich nicht nur in einer großen ökonomischen, sondern auch moralischen Krisis.

Alle Eroberungen der Arbeit, die nicht schrittweise erfolgen und die nicht einer Erziehung des Volkes entsprechen, sind nicht dauerhaft. Die Revolution ist das Laienwunder der Ignoranten. Die Geschichte des menschlichen Fortschrittes ist nicht die Geschichte der Emanzipation der Völker, sondern die Geschichte ihrer Erziehung. Der Kriegsgeist hat in ganz Europa zur Verbreitung des revolutionären Gedankens und einer geringeren Arbeitslust beigetragen. Und da nach dem Krieg der Friede nicht gekommen ist, sondern ein System von unerträglichen Gewalt, so hat sich der revolutionäre Geist über alles Erwarten ausgebreitet.

Die Staaten Europas befinden sich in einem merkwürdigen Zwiespalt. Sie wollen den Frieden im Innern und bringen es nicht fertig, ihn nach außen zu schaffen. Niemand will auf die Gewalt verzichten: auf das Erraffen von Rohstoffen, auf absurde Entschädigungsansprüche, auf unberechtigte territoriale Forderungen – und das alles im Namen des Siegerrechts.

Karikatur des Simplicissimus

Vor dem Kriege war der größte Produzent Europas Deutschland. Heute hindert die Deutschland auferlegte Lage seine Produktion. Die Arbeiter, die auch in Frankreich, England und Italien Mangel leiden, befinden sich in Deutschland in einer noch viel schwierigeren Lage. Sie wissen, daß ein Teil ihres Arbeitsertrages dem Sieger, dem Feinde von gestern gehört, ein weiterer Teil dem Unternehmer und nur ein Teil ihnen. Dazu kommt der Hunger und die dadurch verminderte Arbeitskraft. Vor dem Kriege hatte Deutschland, um seine Bevölkerung zu ernähren, die Landwirtschaft intensiv entwickelt und konnte mittels der Einfuhr von Futtermitteln und Phosphaten sich zum großen Teil selbst ernähren und es zahlte seine Einfuhr mit Industrieerzeugnissen; während es Ueberfluß an Kohle hatte, mußte es Metalle und Rohstoffe einführen. 1913 waren 58 Proz. der deutschen Einfuhr Rohstoffe und Halbfabrikate, 13 Proz. Fertigfabrikate, 26 Proz. Nahrungs- und Futtermittel und 3 Proz. Vieh. Von der Ausfuhr waren 26,3 Proz. Rohstoffe und Halbfabrikate, 63,3 Proz. Fertigfabrikate, 10,3 Proz. Lebens- und Futtermittel und 0,1 Proz. Vieh. Das bedeutet, daß Deutschland vor allem ein Industriestaat war.

Jetzt nach dem Kriege sind Deutschland die härtesten Bedingungen auferlegt worden. Es hat nicht nur seine Flotte verloren, sondern auch seine Kolonien, seine Kredite, seine Handelsorganisationen und schließlich auch noch sein Vieh. Eine Reihe von Kontrollen hindert es in seiner freien Bewegung. Es muß sehr große Kohlenmengen produzieren als Entschädigung. So fehlt alles für die Produktion, die doch nach Lage der Sache verdoppelt werden müßte. Wenn es notwendig war, von Deutschland all die militärischen Garantien und die weitgehende Entwaffnung zu fordern, so war es sicherlich nicht notwendig, sondern sogar unsinnig, alle seine Tätigkeit zu unterbinden. Man kann nicht gleichzeitig Arbeit von ihm verlangen und es unterdrücken wollen.

In dieser Lage ist der ganze Zwiespalt des europäischen Lebens ersichtlich. In dieser Lage liegt der Grund für die neuen Rüstungen, für den geistigen Gegensatz zwischen Regierung und Volk. Es liegt darin der Gegensatz nicht allein zwischen zwei Deutungsweisen, sondern auch zwischen zwei Kulturen.

Solange dieser Zwiespalt nicht verschwindet, wird der revolutionäre Geist nicht geringer werden und das Leben in Europa nicht seinen gewohnten Gang aufnehmen. Und deshalb ist die innere Politik der einzelnen Staaten vor allem eine Funktion der Außenpolitik. Den inneren Frieden wird sich der verdienen, der mit Wirklichkeits- und Gerechtigkeitssinn verstehen wird, den äußeren Frieden zu erringen. Der wird als erster seinen Weg wieder aufnehmen können, der versteht, daß er den andern Völkern den Weg nicht verbauen darf, auch wenn diese Völker zum großen Teil die traurige Verantwortung für den Krieg tragen.“

Quelle:

Weimarische Landes-Zeitung vom 14.12.1920

 

Bilder:

https://de.wikipedia.org/wiki/Francesco_Saverio_Nitti#/media/Datei:Professor_Francesco_Nitti.png

http://www.simplicissimus.info/uploads/tx_lombkswjournaldb/pdf/1/25/25_45.pdf