Weihnachten für arm und reich
Zum Fest macht sich die Weimarische Landeszeitung Gedanken zum Thema Nächstenliebe. Zwar ist der Krieg vorbei, aber die Versorgungslage ist immer noch nicht auf das Vorkriegsniveau zurückgekehrt.
Weihnacht 1920.
Das letzte Fest eines ungeheuerlichen Jahrzehnts glimmt auf; zwischen ihm und dem ersten, wenige Jahre vor dem Krieg, scheint keine Brücke zu sein. Freilich das Fest ist nicht zu zerstören; als Volks- und Familienfest nicht und nicht als religiöse Feier, durch unnachdenkliche Friedenswohlfahrt nicht und nicht durch Krieg. Immer bleibt es eine Trauminsel, eine Zuflucht menschlicher Wärme, auf die selbst die sich flüchten, denen Glaubensinhalt und geschichtliche Voraussetzungen der Weihnachtsfeier wenig mehr sagen.
Dennoch begeht, emporgetaucht aus den grauen und blutigen Nebeln des Krieges, das deutsche Volk die Weihnacht mit ganz anderen, stärkeren aber auch verworrenen Empfindungen als im Anfang des Jahrzehnts. Die Sehnsucht, es möge wieder so sein wie früher, muß unerfüllt bleiben, selbst wenn sie äußerlich erfüllbar wäre. Gewiß haben Straßen und Plätze der Städte wieder, mehr als seit Jahren, das fremde Wunder des Waldduftes gespürt, und reichliche, sogar prunkvolle Auslagen, täuschten über die Dürftigkeit eines verarmten Volkes hinweg. Mit Bewußtsein hat man zeigen wollen, daß Deutschland auf langunterbrochene Gewohnheit nicht über den Krieg hinaus zu verzichten brauche. Aber die Menschen, die den Baum schmücken und Geschenke kaufen, können sich selbst nicht vergessen. Zwischen dem Einst und dem Jetzt steht das Erlebnis, das jedem in jedem Augenblick gegenwärtig ist.
Solange dies Erlebnis noch unmittelbare Wirklichkeit war, während des Krieges, gab es der Weihnacht einen neuen, starken und, trotz des schneidenden Widerspruchs zwischen Friedensbotschaft und Blutvergießen, einfachen Gefühlsinhalt. Vielmehr, gerade dieser Widerspruch gab uns die Fähigkeit zurück, die Seele des Weihnachtsfestes unmittelbar zu erleben. Solange Europa, trotz unaufhörlichen Kriegsgeredes an die Möglichkeit einer Sintflut im tiefsten nicht glaubte, solange ein Jahr dem andern glich, standen die Sinnbilder der Weihnacht nur bloß an unserem Himmel, die Botschaft hatte keine Engelsschwingen; es fehlte die Sehnsucht. Der Gegensatz fehlte, der das Gewohnte erst wieder ergreifend und zum Erlebnis machte. Den schuf der Krieg. Weihnachten im Felde, Weihnacht daheim, während der Nächste vielleicht auf einem Patrouillengang war, oder in Gegenwart des Urlaubers: das war ein Bild von leidenschaftlicher Einfachheit. Das Wort „Friede auf Erden“ hatte wieder Klang, eine ungeheure Sehnsucht machte jede Einzelheit des Festes bedeutsam.
Das ist vorbei. Der hellfarbige Hintergrund, auf dem selbst das Unvergängliche kein Gleichnis mehr war, ist verschwunden, wie der schwarze, von zackigen Blitzen zerrissene des Krieges. Man weiß das Gewohnte nicht mehr unbefangen zu tun, und auch das starke Gefühl des Gegensatzes zwischen Sehnsucht und Wirklichkeit ist verloren. Darum haben die inneren Voraussetzungen, mit denen sich diesmal, im Jahr des unterschriebenen Friedens, Deutschland zu Weihnachtsfeier rüstet etwas so Tastendes, Vielspältiges, Gefühlsverwirrtes. Die Erinnerung an die hinter uns liegende, ganz andere Friedenszeit stört das Empfinden, daß auch heute die Gegensätze vorhanden sind, an denen ein neues Weihnachtsgefühl sich selbst erleben kann. Sehnsucht und Wirklichkeit, Hoffnung und Not widersprechen einander nicht weniger aufrüttelnd als während des Krieges: nur freilich, daß damals die Sehnsucht einfachere Ziele hatte. Aber ist die Botschaft „Friede auf Erden!“ heute weniger erdenfern und darum gewaltig, als unter dem Krachen der Geschütze? Der Unfriede, der die Sehnsucht nicht sterben läßt, bedient sich nur anderer Mittel, und selbst da, wo die Völker einander nicht eindeutig mehr bekämpfen, ist er um so stärker auf die Klassen übergegangen; an die Stelle der Kriegsnot ist das Wirtschaftselend, der vervielfachte Wirtschaftshaß getreten. Niemals war dem Trieb zu helfen, soviel Anlaß gegeben: niemals war das Gefühl der Gemeinsamkei, zu dem sich in Zeiten des Volks- und Staatsbewußtseins der unbestimmte Begriff der Nächstenliebe verdichtet, so aufgefordert, an seiner Bedrängnis zu wachsen. Denn dies unterscheidet die Weihnacht von 1910 oder 1918 von der des Jahres 1920. Damals war sie ein privates Fest, und ihre besten Empfindungen waren private: das ruhig hinfließende Gesamtleben des Volkes und Staates schien der Hilfe nicht bedürftig. Das ist anders geworden. Wer sich heute, zur Weihnacht, von dem Gedanken an das Gemeinsame abwendet, empfindet nicht oder übertäubt eine Gewissensnot.
Quelle:
Weimarische Landes-Zeitung vom 25.12.1920
Bild:
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