100 Jahre Thüringen
Staatskanzlei Thüringen Weimarer Republik e.V. Forschungsstelle Weimarer Republik an der Uni-Jena

Wer spricht für die Nation?

Das linksliberale Jenaer Volksblatt empört sich über die Berichterstattung der rechtsnationalen Jenaischen Zeitung. Diese nehme den „nationalen Gedanken“ allein für die Rechte in Anspruch und halte jeden linksliberalen Redebeitrag für unpatriotisch.

Adolf Korell - Pfarrer und hessischer Politiker (DDP)

Parteipolitische Ausnutzung des nationalen Gedankens.

Das Gift der „Jenaischen Zeitung“.

Ein Freund unserer Zeitung schreibt uns:

Nachdem ich seit mehreren Wochen die „Jenaische Zeitung“ nicht mehr gelesen hatte, fällt mir zufällig die Nummer vom 23. November in die Hand, in der sich die Zeitung im Anschluß an die Berichte des „Jenaer Volksblattes“ über die Reden des Vorsitzenden der Deutschen demokratischen Partei, des Senators Dr. Petersen-Hamburg, in Leipzig und des Reichstagsabgeordneten Pfarrer Korell aus Rheinhessen folgendermaßen ausläßt:

Die Ausführungen beider geben Anlaß zu einigen Fragen an beide Redner oder ihre Genossen, da sie vorgaben, eine nationale und soziale Volkspolitik schlechthin zu vertreten.

Es war eine Freude, gerade aus parteidemokratischem Munde zu hören, wie die Franzosen im Westen (und die Polen im Osten) die Grenzdeutschen aller Parteien zum einheitlichen nationalen Fühlen, Denken und Handeln wieder erzogen hätten. Und auch Dr. Petersen schlug nach dem Bericht warme nationale Töne an, wie wir sie vordem nur aus dem Munde Deutschnationaler und Deutschvolksparteiler zu hören gewohnt waren. Bei manchem Artikel des „Berliner Tageblattes“ und der „Frankfurter Zeitung“ fragte man sich früher, ob die von Franzosen, Engländern oder Gastdeutschen geschrieben seien.

Hierzu ist folgendes zu sagen: Jedesmal, wenn ein demokratischer Redner in Jena in eindrucksvoller Weise geredet hatte, ob es ein auswärtiger Redner oder Professor Gerland, ob es ein Mann oder eine Frau war, wurde von rechtsstehender Seite gesagt: Gegen diese Rede ist nichts zu sagen; der Redner oder die Rednerin des Abends ist eine sympathische Persönlichkeit, die nur aus Versehen bei der demokratischen Partei ist, die gar nicht zu den übrigen Demokraten paßt, denn diese sind nicht national usw. Es wird auch regelmäßig nicht unterlassen, hinzuzufügen, daß man zum ersten male aus demokratischem Munde so warme nationale Töne anschlagen höre, man sei höchstlich überrascht und erfreut, aber man dürfe sich durch diese eine Schwalbe nicht täuschen lassen, in Wirklichkeit würden die Demokraten beherrscht von Theodor Wolff vom „Berliner Tageblatt“ und durch die „Frankfurter Zeitung“, von denen man in der Erwartung, daß die Zuhörer diese großen Zeitungen im allgemeinen nicht kennen, mit großer Verachtung zu sprechen sich herausnimmt.

Carl Wilhelm Petersen - OB in Hamburg (DDP)

In derselben heuchlerischen Weise schreibt jetzt wieder die „Jenaische Zeitung“ über die Reden von Petersen und Korell mit Worten, die sich vielleicht nicht zufälligerweise mit den Ausführungen decken, mit denen z. B. Dr. Lummer seinerzeit Dr. Gertrud Bäumer entgegentrat. Es ist eine Anmaßung sondergleichen, daß die Deutschnationalen und die Deutschen Volksparteiler in diesem verächtlichen Tone von der nationalen Gesinnung deutscher Volksgenossen, die einer anderen Partei angehören, zu reden wagen, es ist eine schwere Kränkung, daß jene Parteien und ihre Organe anderen die nationale Gesinnung absprechen: sie wissen offenbar gar nicht, wie schwer diese Kränkung empfunden wird, und wie sie auseinanderreißend wirkt. Wir Demokraten empfinden mit allen Fasern unseres Lebens deutsch und stellen, wie wir täglich durch die Tat beweisen, unsere Lebenskraft in den Dienst des Deutschtums, zu dem wir nicht nur einige bevorrechtete Schichten, sondern alle Glieder unseres Volkes rechnen. […] Ohne die Hetzereien von rechts würde das deutsche Volk einig sein; es verurteilt einmütig und entschlossen die Okkupation deutschen Bodens durch seine Feinde, einmütig ist das Urteil über die Scheußlichkeit der Politik der Entente, einmütig die Forderung, daß der Friedensbetrug von Versailles rückgängig gemacht werde. Diese Einmütigkeit wird immer wieder gestört durch die Verdächtigungen rechtsstehender Politiker und Zeitungen, die dadurch der Kraft des deutschen Volkes einen Dolchstoß von hinten versetzen.

[…]

Quelle:

Jenaer Volksblatt vom 1.12.1920

In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00273754/JVB_19201201_282_167758667_B2_001.tif?logicalDiv=jportal_jpvolume_00371175

 

Bilder:

https://de.wikipedia.org/wiki/Adolf_Korell#/media/Datei:Jacob_Hilsdorf_-_Adolf_Korell.jpg

https://de.wikipedia.org/wiki/Carl_Wilhelm_Petersen#/media/Datei:PetersenCarlWilhelm.jpg