100 Jahre Thüringen
Staatskanzlei Thüringen Weimarer Republik e.V. Forschungsstelle Weimarer Republik an der Uni-Jena

Wir sind anständig geblieben(?)

Für die Evangelische Kirche Thüringens setzt sich der Diakon Paul Graue mit der Rolle der damaligen Staatskirche im Ersten Weltkrieg auseinander. Anders als der Titel seiner Artikelreihe vermuten lassen könnte, weist Graue jegliche Schuld kategorisch ab. Den Weltkrieg rechtfertigt er als Akt der Notwehr. Auch die eigentlich urchristliche Idee, dass Frieden auf Erden grundsätzlich etwas Gutes sei, teil Graue nicht.

Karikatur des Simplicissimus vom 16. April 1918

Die Schuld der deutsch-evangelischen Kirche im Weltkriege.

Von D. Paul Graue in Weimar.

I.

Die Schuld unserer Kirche im Weltkrieg, nicht etwa an ihm – von vornherein weise ich alle Verleumdungen zurück, die uns Deutschen die Schuld am Kriege zuschieben und nun auch gar die deutsche Kirche an ihr beteiligen wollen, sie, die gar keine politische Weltmacht ist und sein will, sondern die eine rein sittliche und religiöse Macht ist und sein will. Aber eben als sittliche Gewissensmacht habe sie versagt, rufen die Kirchenfeinde ihr zu. Gebiete sie z. B. nicht selbst: „Du sollst nicht töten!?“ Und doch hätten ihre Prediger den Soldaten im Felde Mut zum Kampfe gemacht und in der Heimat das Volk zum Durchhalten aufgefordert, den Krieg also verlängert, statt sich ihm abzuwenden! Nun, zunächst sah sich die Kirche vor eine gegebene Lage gestellt. Der Krieg war da, und durch kein Zauberwort aus der Welt zu schaffen. Er mußte durchgekämpft werden, da half nichts, das war die uns vom Schicksal gestellte Aufgabe. Hätte nun die deutsche Kirche in diesem uns aufgezwungenen Entscheidungskampfe um Sein oder Nichtsein ihrem eigenen Volke in den Rücken fallen sollen? Hätte sie rufen sollen: die Waffen nieder! ergebt euch um jeden Preis! der Krieg ist unbedingt Sünde!? Volksverrat in Todesnot, ein ganz niederträchtiges, miserables Verhalten wäre das gewesen – nur die allerverbissensten Pazifisten (zu deutsch: Friedensmacher) hätten dann noch Achtung vor der Kirche haben können, alle vaterlandsliebenden, treu deutschen Männer und Frauen aber in allen Parteien hätten mit tiefster Entrüstung ihr den Rücken kehren müssen.

Aber es heißt doch: du sollst nicht töten!? Nein, so heißt es nicht. Sondern es heißt: du sollst nicht morden! Und das ist etwas ganz anderes. Wir töten das Ungeziefer. Wir töten wilde Raubtiere. Wir töten Tiere auch im Dienste der menschlichen Ernährung. Zu uns allen kommt der Tod. Tod ist ein notwendiger Bestandteil der göttlichen Naturordnung, wie der harte Kampf ums Dasein notwendig zur Grundbeschaffenheit der Welt gehört. Würden wir grundsätzlich Tiere nicht töten, wie es der Buddhismus gebietet, dann wäre die Folge, wie sie tatsächlich in buddhistischen Ländern eingetreten ist, ein Ueberhandnehmen der Raubtiere und des Ungeziefers, die Entstehung von Seuchenherden aller Art, ein Zustand, unerträglich für die Menschen und auch für die Tiere. Aber Menschen töten?! Wenn Vernunft und Liebe es gebieten, warum nicht? In der Todstrafe sehe ich noch immer – vorausgesetzt natürlich, daß sie ohne Quälerei vollzogen wird – ein letztes Mittel in der Bekämpfung des Verbrechens. Und ernste Christen glauben, daß es Aerzten erlaubt sein müsse, übermäßig gequälten, rettungslos dem Tode verfallenen Kranken durch eine Gabe Morphium das Sterben zu erleichtern. Und in der Notwehr – wird wirklich ein Starker, der sich wehren kann, dem Mörder sich preisgeben ohne den Versuch der Gegenwehr? Wird er die Pistole, den Degen wegwerfen und sich absichtlich wehrlos machen? Das kann wohl ein einzelner, ein Privatmensch tun und mag es vor seinem Gewissen verantworten. Aber schon er handelt unsittlich, wenn er die Gegenwehr unterläßt da, wo andere, die seiner Obhut anvertraut sind, angegriffen werden, wenn er z. B. seine Frau, seine Kinder feige und treulos im Stich läßt. Und im Kriege kämpft ja der einzelne gar nicht mehr bloß als einzelner, als bloßer Privatmensch, der allein auf seine eigene Verantwortlichkeit gestellt ist, sondern da kämpft er als Glied seines Volkes, als Beauftragter des Staates, als Diener und Werkzeug einer Gesamtnotwehr, die Pflicht und Ehre ist. Und da muß er denn freilich töten. Aber er muß mit nichten morden! Denn „morden“ heißt: aus Rachgier, Habsucht, Schadenfreude, Zerstörungslust, Haß, Rohheit einen aus dem Wege räumen!

Sind nun aber unsere Soldaten 1914 mit solchen Gesinnungen ins Feld gezogen? Haben sie als gemeine Kerle, die nicht genug im Blute waten konnten, den Krieg geführt? Und hat die Kirche sie aufgefordert: Haßt unsere Feinde, und hassend schlagt sie tot und quält sie vorher noch so grausam wie möglich, vergewaltigt ihre Frauen und Mädchen, bereichert eure Tasche mit fremden Eigentum, nehmt keine Rücksicht, nicht die geringste, auf edelmenschliche Empfindungen, nein, mordet, mordet, mordet? So ertönts ja bis heute zumal in sozialistischen Zeitungen: die Kirche habe „den Völkermord gepredigt.“ Die arme Kirche! Sie konnte es allerdings unmöglich allen recht machen. Sie konnte weder Friedensvergötterung, noch Kriegsvergötterung treiben. Sie konnte unmöglich das sinnliche Leibesleben so hoch einschätzen, daß sie es für das höchste Gut erklärt hätte, höher als das Wohl des Vaterlandes, als Ehre, Mannesmut, Aufopferung, Seele. Aber sie kann natürlich auch nicht blind sein gegen die sittlichen Gefahren des Krieges, gegen die Gefahr der Verrohung, die in ihm liegt, zumal wenn er lange dauert, und gegen das tatsächliche Unrecht, das sich in mancherlei Formen mit ihm verbindet.

Karikatur des Simplicissimus vom 19. November

Der Krieg ist keine einheitliche Größe, sondern er trägt ein Doppelantlitz. Auf der einen Seite erstrahlen hohe Tugenden bei Freund und Feind Selbstverleugnung, Opfersinn, Gehorsam, Tapferkeit, Zucht, Pflichtgefühl, Kameradschaftlichkeit, dazu die ritterlichen Tugenden milder Schonung, wo sie möglich ist, großmütigen Schutzes der Schwachen, der Frauen, der Greise, der Kinder. Auf der anderen Seite zeigen sich aber leider, wie gesagt, auch Untugenden und Gefahren des Krieges, wie sie zwar nicht notwendig, aber tatsächlich sich mit ihm verbinden: das Sichgewöhnen an Zerstörung von Leben und Eigentum, ein Aufgepeitschtwerden sinnlicher Luft, rohe selbstische Gier aller Art. Mit dem notwendigen Uebel „Krieg“ geht zusammen ein fast notwendiges Böses. Aber daraus folgt nun für den Sittenlehrer nicht, daß er den Krieg einfach als eine Schule des Lasters verwerfe, denn er ist ebenso sehr und noch vielmehr eine Schule größester männlicher Tugenden, größter völkischer Kraft, Liebe und Zucht. Und ist denn der Friede an sich, ein Friede um jeden Preis und in jeder Art, besser? Daß um dieses greulichen Friedens willen, den wir jetzt haben, keiner von unseren Männern und Jünglingen freiwillig in den Tod gegangen wäre, ist gewiß. Freilich wird man sagen: dieser Friede ist gar kein Friede, sondern eine ganz gemeine Fortsetzung des Krieges. Aber stellen wir uns einen Frieden vor, der wirklich einem Volke Ruhe gebracht hat vor seinen äußeren Gegnern! Während dieses Friedens tobt im Volk ein bis aufs äußerste getriebenen Wirtschaftskampf, eine zügellose freie Konkurrenz, die die Schwachen zerreibt oder zertritt, und der Staat ist weiter nichts als der harte Zwangsvollstrecker der im Wettlauf ums Geld entstandenen Schuldforderungen. Oder es wohnt in Stadt und Land ein Volk, dessen einzige Religion die Anbetung des Mammons und der Materie ist, während Gott und die Seele ihm Einbildungen wurden. Ein verweichlichtes, üppiges, übermütiges Geschlecht wird von einer seinen Wünschen unbedingt nachgebenden, jede Machtanwendung verabscheuenden Regierung von äußerlichen Genußmenschen und Glücksjägern beherrscht: ist ein solcher Friede etwas Edles? Etwas, für das, bloß weil es „Friede“ heißt, eine immerhin mit hohen Ueberlieferungen ausgerüstete Macht, wie die Kirche begeistert sich einsetzen könnte? Ich habe ein bloßes Phantasiebild gemalt; aber solche Friedensbilder sind an sich durchaus möglich. Und daraus ziehe ich den Schluß: auch der Friede ist kein höchstes Gut. Sondern es kommt überall auf die Menschen an, was sie aus dem Frieden machen und was sie aus dem Kriege machen. Das höchste Gut für Christen ist das Reich Gottes auf Erden, für Gottesleugner anders ausgedrückt: ein Reich der Herrschaft des Guten, des sittlichen Ideals, die Herrschaft einer innerlich erneuten, dem Guten, Wahren, Schönen, geistig erschlossenen Menschheit. Sinnliches Wohlbefinden kommt erst in zweiter Linie; das Höchste ist eine neue, vom Sittengesetz beherrschte Innerlichkeit und Seelenhaftigkeit. Da mag dann ein Krieg kommen (gesetzt, er wäre dann noch möglich): eine solche, sittlich gebildete und erzogene Menschheit wird dann die Tugenden des Krieges pflegen, nicht seine Laster. Und die Kirche hat dann die einfache Aufgabe, für die bleibende, segnende Kraft des Guten in Krieg und Frieden und in allen Völkern der Erde zu arbeiten und zu beten. Und das kann sie auch jetzt schon tun und hat es getan.

Quelle:

Weimarische Landes-Zeitung vom 20.12.1920

 

Bilder:

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