100 Jahre Thüringen
Staatskanzlei Thüringen Weimarer Republik e.V. Forschungsstelle Weimarer Republik an der Uni-Jena

Das Gesicht des deutschen Pazifismus zu Gast in Jena

Ludwig Quidde sollte 1927 für sein unermüdliches Engagement für die Völkerverständigung den Friedensnobelpreis erhalten. Seine Gedanken zu den Pariser Beschlüssen und dem Ideal des Völkerfriedens führte Quidde in einer gutbesuchten Versammlung im Jenaer Burgkeller aus.

Ludwig Quidde (1858-1941)

Der Völkerbund und das Pariser Diktat.

Vortrag von Professor L. Quidde.

Auf Veranlassung des Deutsch-pazifistischen Studentenbundes und der Deutschen Friedensgesellschaft, Ortsgruppen Jena, sprach am Sonntag in einer außerordentlich gut besuchten Versammlung im „Burgkeller“ Professor Dr. Quidde-München über „Der Völkerbund und das Pariser Diktat“. Der Redner führte in seinem von reinem Idealismus durchglühten, von starkem Wollen zur Tat getragenen Vortrage ungefähr folgendes aus:

Das deutsche Volk steht heute unter dem Eindruck der Pariser Beschlüsse. Alle, ob rechts oder links, sind sich einig in der Ablehnung des unerhörten Diktats, müssen ja auch einig sein, gilt es doch, Leben und Lebensmöglichkeit des gesamten Volkes vor der Erdrosselung zu retten. Ablehnung mit dem Nachweis der Unmöglichkeit der Durchführung! Und die Feinde rechnen ja auf unser Nein! Sie können es ja gar nicht ernst meinen. Denn, wer will, daß Europa und die Welt aus dem heutigen Zustand des Elends herauskommt, der kann die Versailler und Pariser Beschlüsse nicht durchführen wollen! Und das größte Anrecht und die größte Berechtigung, Wortführer dieses Protestes gegen die Pariser Beschlüsse zu sein, haben die Pazifisten. Sie waren es, die in Deutschland zu Zeiten, wo noch niemand an den Zusammenbruch dachte, davor warnten, im Falle des Sieges nun auch den Frieden zu einem „Sieg-Frieden“ zu machen. Sie bekämpften die wahnsinnigen Forderungen der Kriegshetzer, weil sie nicht wollten, daß die Menschheit noch in größeres Elend, in tieferes Unglück gestürzt würde. Sie verlangten damals schon den Frieden des Rechts und der Völkerverständigung, wissend, daß ein „Siegfriede“, ein „Annexionsfriede“ neuen Haß, neue blutige Wirren im Gefolge habe würde. …

Der Versailler Frieden und das Pariser Diktat machen Deutschland zu einem Sklavenvolk. „Frondienst im Dienste der Völker ist etwas Unerhörtes!“ Was sagen jetzt viele von denen, die vordem den feindlichen Staaten dasselbe antun wollten, was diese jetzt uns antun! Mit wieviel mehr Berechtigung können nun wir Pazifisten das sagen! Und unser Protest wird im Ausland gehört, zum mindesten von den Freunden unserer Sache!

Aber was dann, wenn alle unsere einmütigen Proteste nicht gehört werden? Welcher Weg führt zur Revision des Friedens von Versailles? Die einen meinen, er führe über den Weltbolschewismus, andere predigen den Revanchekrieg, wir aber glauben, der Weg führt über den Sieg des Gedankens des Rechtes, des Völkerbundes und der Völkerverständigung!

[…]

Gedenkmarke von 1975

Betrachten wir doch die Sache vom Standpunkte der praktischen Frage nach den Aussichten. Die Antwort ist einfach. Für absehbare Zeit, für die nächsten 30, 40, 50 Jahre, ist schon die Führung eines solches Krieges unmöglich. Wir sind entwaffnet – nicht für den Bürgerkrieg (leider!) – aber entwaffnet für den großen Krieg! Waffenlos und wehrlos stehen wir da! Und Deutschland wäre der Ueberschwemmung mit feindlichen Armeen ausgeliefert im Augenblick, wo wir uns erheben wollten. Und Maurenbrecher, der ehemalige Sozialist und jetzt so tapfere Wortführer der Deutschnationalen, meint ja nun, daß wir kämpfen müßten und würden im Verein mit Rußland und Japan. Ja, aber ehe diese uns zu Hilfe kommen können, ist Deutschland bis nach Königsberg und Breslau schon von Feinden voll. Und jeder Fuß breit deutschen Bodens müßte unter unendlichen Verlusten und Zerstörungen zurückerobert werden! Darum ist das Spielen mit dem Gedanken des Revanchekrieges ein Frevel, ein Verbrechen am Schicksal des deutschen Volkes.

Bleibt also nur noch der Weg der Verständigung, des Aufbaues einer neuen Gemeinschaft der Völker! Das wesentliche Moment dabei ist die Ausschaltung der Gewalt, die Ueberwindung des Krieges. Selbst schärfste Gegner des Pazifismus geben die Berechtigung der Ueberwindung des Krieges zu. Denn es ist ein ethisches Ziel der Entwicklung der Menschheit. Wie viele von denen, die vor dem Kriege und vielleicht noch im ersten Jahre desselben, den „Krieg“ ein „moralisches Stahlbad“ nannten und ihn darum billigten, ja geradezu forderten, haben erkennen müssen, welche moralischen Verwüstungen er anrichtet. Die Verwahrlosung der Sitten, die Nichtachtung der Gesetze, sie sind nicht Folgen der Revolution, sie sind Folgen des Krieges und haben ihren Ausgang genommen gerade in hochangesehenen Kreisen, in Kreisen, die die Macht hatten und sie für sich mißbrauchten. Dort, gerade dort fing die Fäulnis an.

[…]

Sitzungssaal des Völkerbundes in Genf

Und es ist der Grundzug menschlicher Kulturentwicklung, Gewalt zu beseitigen, das Gebiet des Rechtes zu erweitern. Und wie die Blutrache verschwand, die am Anfang der Entwicklung da war, und wie die Gewalt in den Händen des einzelnen der Volksjustiz unterstellt wurde, und wie zu Zeiten Karls des Großen sich eine vollstreckende Staatsgewalt bildete, wie das Fehderecht – das dem einzelnen das Recht ab, seine Rechtsansprüche mit der Waffe in der Hand zu verfolgen – dem ewigen Landfrieden weichen mußte, und wie die Gewalt die Beziehungen zwischen den einzelnen deutschen Stämmen immer weniger und weniger zu regulieren pflegte, wie sie völlig überwunden wurde, so muß die Gewalt auch überwunden werden in den Beziehungen der Völker untereinander.

Und da gibt es nur eine Möglichkeit, die durch übernationale Verständigung. Wir brauchen übernationale Organisationen, weil wir in Zeiten internationaler Verbindung menschlicher Interessen stehen, wir brauchen sie, weil wir in Zeiten internationaler Verbindung politischer Interessen stehen. […] Und wir Deutschen haben nun eine große, erhebende Aufgabe: Wir Deutschen müssen dabei Führer sein. Wir vertreten unser eigenes Interesse, wir vertreten das Interesse der Menschheit, wenn wir die reine Forderung des Völkerbundes verfechten. Mit dem Sieg unserer Sache ist verbunden der Sieg des Gedankens des Rechts, der Völkerverständigung und der Völkerversöhnung. Und wir stehen nicht allein und der Pazifismus ist keine Utopie. Der Kräfte regen sich immer mehr in allen Ländern, die für ihn wirken. Die Forderungen der englischen Arbeiterpartei, die ja vor wenigen Tagen in der Presse zu lesen waren, sind sie im großen und ganzen nicht die unseren? Und die Kreise um Romain Rolland und Henri Barbusse in Frankreich, sind sie nicht scharfe Verfechter des pazifistischen Gedankens? Und haben in Italien die beiden kriegsgegnerischen Parteien, Demokraten und Sozialisten, bei den Wahlen nicht einen durchschlagenden Erfolg davongetragen?

Und nochmals: Wir müssen Führer sein beim Aufbau einer neuen Gemeinschaft der Völker. Mißerfolge im einzelnen dürfen uns nicht schrecken. Ehrlich und konsequent müssen wir den Weg gehen. Für Völkerverständigung, für Völkerversöhnung, für Völkerbund!!

Stürmischer Beifall dankte dem Redner für seine Ausführungen.

[…]

Quelle:

Jenaer Volksblatt vom 22.2.1921

In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00273823/JVB_19210222_044_167758667_B2_001.tif?logicalDiv=jportal_jpvolume_00371266

 

Bilder:

Ludwig Quidde nobel - Ludwig Quidde – Wikipedia

DBP - Nobelpreisträger - 50,50,50 Pfennig - 1975 - Ludwig Quidde – Wikipedia

Bundesarchiv Bild 102-00729, Genf, Völkerbund, Sitzungssaal - Völkerbund – Wikipedia