100 Jahre Thüringen
Staatskanzlei Thüringen Weimarer Republik e.V. Forschungsstelle Weimarer Republik an der Uni-Jena

Die Türkei als Vorbild für deutsche Nationalisten

Nachdem das Osmanische Reich nach dem Ersten Weltkrieg zerschlagen wurde, formierte sich unter der Führerschaft von Mustafa Kemal genannt „Atatürk“ der türkisch-nationalistische Widerstand. Atatürks Truppen sicherten das heutige Gebiet der Türkei und zwangen der Entente einen neuen Friedensvertrag auf. Für deutsche Nationalisten ist der Kemalismus ein Vorbild, wie dieser Artikel zeigt.

Der "Vater der Türken" in westlicher Kleidung

Aus der Türkei von heute.

Ein in Deutschland lebender Türke schreibt uns: „Wie überall bricht jetzt auch in der Türkei eine neue Kampfepoche herein. Die kurzsichtige Verbandspolitik [gemeint ist die Entente, Anm.] hat diese Entwicklung unterstützt. Die sozialen, kulturellen, politischen und geistigen Verhältnisse Europas sind ohne Zweifel nicht ohne Einfluß auf die Türkei geblieben. Die Zeichen dieser Einflüsse erlebt man heute im osmanischen Reiche, soweit man von einem solchen noch sprechen darf, täglich. Der Kampf der Türkei wird sich vor allem gegen die Versklavung richten, woher sie auch kommen mag. Der mächtigste Trieb dieser Zeitperiode ist sicherlich die nationalistische Bewegung. Sie geht in der Hauptsache von den Anhängern der jungtürkischen Partei aus. Die nationalistische Bewegung ist eine Bewegung der Not. Sie hat eigentlich schon Anfang 1919 eingesetzt. Vorbereitet, wie vielerseits angenommen, ist sie vorher nicht gewesen; wenigstens kann von einer gründlichen Vorbereitung des Aufstandes nicht die Rede sein. Immerhin kann mit ziemlicher Sicherheit angenommen werden: die Führer der jungtürkischen Partei haben den Fall einer Niederlage der Mittelmächte in Erwägung gezogen und beraten, was in einem solchen Falle geschehen solle. Obwohl keine bestimmten Beschlüsse gefaßt werden konnten, wurden doch Richtlinien für ihre zukünftige Haltungsweise festgesetzt. Nachdem das Kabinett des Generals Izzet Pascha und die darauf folgenden drei Kabinette unter Leitung des ehemaligen türkischen Botschafters in London, Tewsik Pascha, ihre vollständige diplomatische Unfähigkeit bewiesen hatten, war es die höchste Zeit zum Eingreifen der Nationalisten. Letztere haben den Zeitpunkt des Vorgehens sehr gut abgeschätzt: Frühjahr 1919 ging Mustafa Kemal Pascha nach Anatolien, um die Leitung der Bewegung zu übernehmen; Deckmantel dafür war seine Eigenschaft als Generalinspektor der Gendarmerietruppen. Gleich nach seiner Ankunft in Angora hat er sich von der Regierung in Konstantinopel losgesagt und die „Gesellschaft für die Verteidigung der Rechte Anatoliens und der europäischen Türkei“ gebildet. Als Präsident dieser Gesellschaft und als richtiger Volksheld, bekannt aus den Dardanellenkämpfen 1915-1916, verstand er es, das Vertrauen und die Unterstützung seiner Landsleute zu gewinnen. Was die nationalistische Bewegung nach außen hin erzielt hat, das haben wir an der Ratlosigkeit des Verbandes bis zur Ueberreichung des türkischen Friedensvertrages am 12. Mai v. Js. gesehen: nicht weniger als achtzehn Monate hat der Verband gebraucht, bis sie der türkischen Abordnung den Friedensvertrag überreichen konnte!

Ursprünglich geplantes Staatsgebiet einer verkleinerten Türkei

Auch eine sozialistische Bewegung hat eingesetzt: schon 1917 hat ein türkischer Abgeordneter von Konstantinopel am internationalen Sozialistenkongreß in Stockholm als offizieller Vertreter der Türkei teilgenommen. Nach seiner Rückkehr aus Schweden sprach er in einer privaten Gesellschaft mit Begeisterung wörtlich aus: „Sie werden erleben, daß ich im Parlament die Unabhängigkeit aller Länder fordern werde. Man wird mich niederschreien; man wird mich als einen Landesverräter bezeichnen, aber es ist doch die Wahrheit, was ist sage.“ Und schon bald nach der Beendigung des großen Krieges wurde die Türkische sozialdemokratische Partei gegründet. Ihr Führer ist ein türkischer Arzt und Dozent: Dr. Hasan Risa Bey. Die sozialdemokratische Partei hat augenblicklich keine offiziellen Vertreter in der türkischen Kammer. In Konstantinopel erscheint aber ein Organ dieser Partei, „Kurtulusch“ genannt, d. h. „Die Rettung“. Sie verbreitet in Wort und Schrift die sozialistischen Bestrebungen und Ziele. Ferner gibt es eine Vereinigung türkischer Land- und Fabrikarbeiter. Sie hat den politischen Zusammenschluß der arbeitenden Massen zum größten Teil herbeigeführt. Die verbandsfreundlichen Kreise meiner Heimat bezeichnen auch die sozialistische Strömung als ein Werk der Jungtürken. Mit wieviel Recht, sei dahingestellt. Auch Streiks sind heute in Konstantinopel an der Tagesordnung. Am 1. März v. Js. fing der Streik der Lehrerschaft an, der sich von der Hauptstadt auf die Provinz ausdehnte; Grund: den Lehrern konnte ihr volles Gehalt nicht ausgezahlt werden, da die türkischen Finanzen versagten. Dem Lehrerstreik folgte der Streik der städtischen Sanitärbeamten; auch diese verlangte die Erhöhung ihrer Gehälter. Gleich darauf stellten die Arbeiter der Konstantinopler Straßenbahn der Direktion ein Ultimatum und verlangten die Erhöhung ihres Lohnes, die Einführung einer sechstägigen Arbeitswoche mit achtstündiger Tagesarbeit. Die Annahme ihrer Forderungen wurde ihnen zugesagt und bald kam eine Einigung zustande. Man sieht, in meiner Heimat tauchen dieselben Probleme auf wie in Europa.“

Quelle:

Der Deutsche vom 14.2.1921

In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00247701/SDH_19376538_1921_Der_Deutsche_0157.tif

 

Bilder:

Atatürk Kemal - Mustafa Kemal Atatürk – Wikipedia

Treaty sevres otoman de - Vertrag von Sèvres (Osmanisches Reich) – Wikipedia