100 Jahre Thüringen
Staatskanzlei Thüringen Weimarer Republik e.V. Forschungsstelle Weimarer Republik an der Uni-Jena

Prekäre Lage der Thüringer Landesregierung

Die Landtagswahlen im Juni 1920 brachten eine bürgerliche Mehrheit, wie das sozialdemokratische Blatt Das Volk hervorhebt. Dass es also trotzdem zu einer Mittelinks-Regierung kam, ist keineswegs selbstverständlich. Das Blatt betont daher die Notwendigkeit die bürgerlichen Partner in der DDP nicht durch übertriebene Forderungen zu verprellen.

Das ehemalige Landtagsgebäude in Weimar

Die politische Lage in Thüringen

Weimar, 23. Februar.

Wir stellten gestern eine politisch bedeutsame Debatte für die Beratung des ersten Etats des Innenministeriums (v. Brandensteins) in Aussicht. Nach ausgedehnter Aussprache über die Eisenbahnschmerzen, die Verkehrsnot aller thüringischen Landesteile, bei denen auch die Vertreter Ostthüringens die dürftige Verbindung der Industrie- und Handelsstädte mit den nord- und westdeutschen Zentren stark betonten, Gen. Metzschke (Altenburg) die Heranziehung der Gewerkschaften bei der Behebung der Verkehrsnot verlangte, berichtete Gen. Leber über die Ausschußberatung des Innen-Etats. Als bemerkenswert hob Gen. Leber bereits hervor, daß die vereinigte nationalistische Rechtspartei sich bei der Abstimmung im Ausschuß der Stimme enthalten hatte. Herr Höser gab dann für die reaktionäre Rechtspartei die Erklärung ab, daß sie bei ihrem unerschütterlichen Mißtrauen gegen Brandenstein, den Innenminister, seinen Etat ablehnen würde. Zur Abwechslung berief sich Herr Höser überflüssigerweise auf sein parlamentarisches Recht; aber es war klar, daß, wie immer auch der Rechtsblock seine Erklärung frisierte, sich für die Sozialdemokraten die Notwendigkeit ergab, zu der neuen Situation Stellung zu nehmen. Dasselbe Bild ergab sich dann auch beim letzten Punkt des Tages: der Forderung der Regierung für das Landes-Wohnungs- und Siedlungsamt. Wiederum die obligate Erklärung Hösers gegen die Person des Republikaners v. Brandenstein, notwendigerweise wiederum der sozialdemokratische Antrag, die Abstimmung wie beim vorigen Punkt zu vertagen. So geschah es auch.

Heute findet keine öffentliche Sitzung statt, damit die Ausschüsse Zeit haben, Vorlagen zur öffentlichen Beratung vorzubereiten.

Der sitzungsfreie Tag wird allen Parteien Gelegenheit geben, zur politischen Lage Stellung zu nehmen. Insbesondere wird sich jede Linkspartei darüber schlüssig werden, ob sie gerade angesichts des Ausfalls der Preußenwahlen der Rechten die Freude bereiten will, Brandenstein stürzen zu helfen und damit die Basis des ganzen Ministeriums zu erschüttern. Auch wir bekennen offen, daß das jetzige Ministerium auch nicht die ersten Blütenträume des Sozialismus reifen lassen kann. Denn es birgt neben den zwei bewußten Sozialisten eine bürgerliche Majorität. Aber es ist wie bei seiner Geburtsstunde das republikanische Linksministerium, angesichts der sozialistisch-kommunistischen Minderheit von 26 gegen 27 Bürgerliche und der unverständlichen Abstinenz der Unabhängigen bei der Regierungsbildung die einzige Möglichkeit, Einheitsthüringen gegenüber der Sabotage Orghöfs zu retten und es republikanisch und demokratisch zu regieren. Daß das Ministerium bei der geringen Mehrheit von 30 (bei 4 oft abwegig gehenden kommunistischen) Stimmen nicht auf Rosen gebettet sein würde, war von Anbeginn klar und alle allmählich tatsächlich ernster werdenden Schwierigkeiten standen dem nüchtern Sehenden von vornherein als düstere Paten an der Wiege der Regierung und verlangten sehr seine Diplomatie. Aber der kühnste Sozialdemokrat und Kommunist wie der einsichtige Demokrat können nur die Alternative erkennen: Rechtsregierung oder Linksministerium.

[…]

Quelle:

Das Volk vom 23.2.1921

In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00226548/Das_Volk_1921_02_0315.tif

 

Bild:

Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar - Thüringer Landtag (Weimarer Republik) – Wikipedia