Vertrauenskrise der Justiz
Dem demokratischen Staatswesen steht die mental noch im Kaiserreich verankerte Justiz ablehnend gegenüber. Von Seiten der Linken werden zahlreiche Missstände und zum Teil skandalöse Fehlurteile angeprangert, was einer einseitigen Bevorzugung der Rechten bzw. von rechten Gewalttätern gleichkommt. In diesem Artikel versucht der sozialdemokratische Jurist Felix Kolkwitz einen Ausweg aus dieser verfahrenen Lage aufzuzeigen.
Die deutsche Justiz
Von Dr. jur. Felix Kolkwitz
Weimar, 20. Februar 1921.
Die Aussprache über den Justizetat im Reichstage zog das Interesse aller derer auf sich, die den Wiederaufbau Deutschlands im Auge haben. Leider mußte es zu schnell durch die Beschäftigung mit den Entschädigungsforderungen der Entente abgelöst werden. Es empfiehlt sich aber dringend für den sozialistischen Politiker, der Justiz die größte Aufmerksamkeit zu widmen. Das ist noch ein Gebiet, das sich der Arbeit der Sozialdemokratie mit Erfolg fast gänzlich verschlossen hat. Das liegt daran, daß Reformen in der Justiz nur von Männern durchgeführt werden können, die sich der eingehendsten Gesetzeskenntnis erfreuen, denn der gesetzte technische Apparat hat hier die kompliziertesten und kleinsten Maschen geschlungen. Wenn auch auf dem Gebiete der inneren Verwaltung, des Ernährungswesens, des Wohlfahrtswesens und sonstigen Verwaltungszweigen eine gewaltige Gesetzesmasse zu beherrschen ist, so kann es doch hier auch Männern ohne jede juristische oder sonstige akademische Vorbildung sehr gut gelingen, sich zu Fachleuten hinaufzuarbeiten. Bei der Justiz ist das ausgeschlossen; auch der Besterfahrenste würde nie Richter, Staatsanwalt oder Rechtsanwalt werden können, weil gesetzlich ein langer und kostspieliger Ausbildungsweg vorgeschrieben ist. Und die Justizjuristen, die sozialistisch gesinnt sind, die sind leider noch sehr dünn gesät.
Liest man die Rede unseres Reichsjustizministers Dr. Heinze von der Deutschen Volkspartei, dieser echten Assessorentype, dann muß man an jenen Wiener Polizeipräsidenten denken, der beim schrecklichen Brande der Oper meldete: „Alles gerettet!“ Es scheint ihm die ganze Justiz in schönster Ordnung zu sein. Er fand kein bedauernswertes Wort für die vielen Justizskandale, deren in den letzten zwei Jahren einer den anderen ablöste. Wenn auch die Kritik des Kommunistenführers Levi, der den deutschen Richtern bewußte Rechtsbeugung vorwarf, über das Ziel hinausgehen mag, so muß doch jeder ehrlich Denkende alles das unterschreiben, was unser Genosse Professor Radbruch-Kiel in seiner Rede gegen die deutsche Justiz vorbrachte. Wirkungsvoll stellte er die Urteile, in denen lächerlich geringe Geldstrafen für Beleidigung des Reichspräsidenten und seiner Frau verhängt werden, denen gegenüber, in denen Beleidigungen gegen den Fürsten von Reuß und rechtsstehende Persönlichkeiten mit hohen Geld- und Gefängnisstrafen gesühnt werden. Am empörendsten ist die eigenartige Anwendung der Amnestieverordnung: Oberleutnant Vogel und Oberleutnant Kessel, ein Mörder und ein Meineidiger, werden amnestiert! Dabei macht es für unsere Betrachtung nichts aus, daß ein höheres Gericht anders entschieden hat, es ist schon allein schmachvoll, daß überhaupt sich ein Justizkollegium finden konnte, hier solche Beschlüsse zu fassen. Ein normal denkender Laie wird es nie verstehen können, daß man zur Anwendung eines hochverräterischen Unternehmens einen Meineid hätte schwören müssen. Nicht viel minder kraß liegen die übrigen Fälle.
[…]
Die Sozialdemokratische Partei hat bisher noch keine Zeit gehabt, den Punkt des Erfurter Programms, der die Wahl der Richter durch das Volk verlangt, in die Wirklichkeit umzusetzen. Es wird auch vollkommen sachlich geprüft werden, in welcher Art sich diese Idee durchführen lassen. Vorläufig hat Genosse Radbruch in seiner Rede zum Justizetat zunächst einmal die Wahl der Schöffen und Geschworenen durch die kommunalen Körperschaften nach Proportionalwahlsystem gefordert. Die unmittelbare Veranlassung zur Neuerhebung dieser Forderung gab der Prozeß gegen die Marburger Studenten; er gab ferner dem Genossen Radbruch den Anstoß, zwei weitere wichtige Forderungen auf dem Gebiet der Justiz aufzustellen: Zulassung der Angehörigen unschuldig Getöteter als Nebenkläger und Neuregelung der Bestimmungen über Waffengebrauch. Das letztere hat bereits in der Vorkriegszeit den politischen Gemütern zu heftigen Debatten Anlaß gegeben.
Die schwerste und wichtigste Sorge für den Justizpolitiker muß in Zukunft nun die Heranbildung von Berufsrichtern sein, die mit proletarisch-demokratischem Geiste erfüllt sind. Denn was nützen die schönsten Gesetze, wenn die Praxis sie in das Gegenteil verkehrt? Da senkt sich aber eine schwarz-graue Sorgenwand hernieder: Wer vermag es zu sagen, aus welchen Kreisen, sich die zukünftigen Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte rekrutieren werden? Aus proletarischen Kreisen sicher nicht, wenn nicht bald Abhilfe geschaffen wird. Die Kosten der Justizlaufbahn sind so ungeheure, daß sie schon jetzt nicht mehr von der Bourgeoiskreisen getragen werden können, die bisher ihre Söhne in diese Laufbahn sandten. Die Kolleggelder werden in nächster Zeit auf das Dreifache erhöht werden, die Bücher und Zeitschriften sind unerschwinglich, am teuersten ist der Aufwand für das tägliche Leben. Aber wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Den denke ich mir so: Es werden in jedem Lande alljährlich eine Anzahl Abiturienten aus proletarischen Kreisen – sagen wir in Thüringen etwa 5 – die Luft und Liebe zur juristischen Laufbahn haben (den Ausweis hierfür kann die auf der Schule gelehrte Staatsbürgerkunde geben), ausgewählt und sofort mit einer Gerichtsschreibergehilfenstelle beliehen; eine täglich nur vierstündige Arbeitszeit gibt ihnen Muße um Besuch der Universität und zu häuslichen Studien. Die Studiendauer müßte dann allerdings um etwa ein Jahr verlängert werden. Auch als Referendare leisten sie halbe Gerichtsschreiberarbeit unter Zahlung des vollen Gerichtsschreibergehaltes. Sie werden von allen Universitäts- und Prüfungsgebühren befreit. Bei einer Ziffer von 530 Rechtsstudierenden auf der Universität Jena werden die wenigen Stipendiaten eine fühlbare Mehrbelastung in den Seminarien und Hörsälen nicht bringen.
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Quelle:
Das Volk vom 21.2.1921
In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00226548/Das_Volk_1921_02_0304.tif?logicalDiv=jportal_jpvolume_00190615
Bilder:
Reichsgerichtsgebaeude frontal - Reichsgericht – Wikipedia
Bundesarchiv Bild 102-12279, Walter Simons - Walter Simons – Wikipedia