100 Jahre Thüringen
Staatskanzlei Thüringen Weimarer Republik e.V. Forschungsstelle Weimarer Republik an der Uni-Jena

Wir halten an Versailles fest!

In einer vielbeachteten Rede führt Reichsaußenminister Walter Simons, dass die Reichsregierung weiter am Versailler Vertrag festhalten werde. Diese decke das aktuelle drohende Vorgehen der Franzosen aber eben nicht ab, so Simon.

Karikatur des Simplicissimus

Paris und Versailles.

Die Stuttgarter Rede Dr. Simons erregte in der französischen Presse einen wahren Entrüstungssturm. Der „Temps“ fordert die französische Regierung auf, sofort auf dem linken Rheinufer die sogenannte außerordentliche Zollverwaltung einzuführen. Er beruft sich dabei auf Artikel 270 des Versailler Vertrages, in dem sich die alliierten und assoziierten Mächte das Recht vorbehalten, auf das von ihren Truppen besetzte deutsche Gebiet ein besonderes Zollregime für Einfuhr und Ausfuhr anzuwenden, für den Fall, daß eine solche Maßnahme notwendig ist, um die wirtschaftlichen Interessen der Bevölkerung dieser Gebiete zu wahren. Dieser Wortlaut des Versailler Vertrages beweist, daß die Forderung des „Temps“ nach Errichtung eines besonderen Zollregimes im besetzten Rheinlande sich nicht auf den Friedensvertrag berufen kann. Denn selbst die französische Regierung kann nicht behaupten und hat nie behauptet, daß eine besondere Zollgrenze etwa zur Wahrung der wirtschaftlichen Interessen der Bevölkerung des besetzten Rheinlandes notwendig sei. Der „Temps“ will vielmehr, daß eine solche Maßnahme ergriffen werde, um auf Deutschland einen Druck auszuüben, die über den Friedensvertrag hinausgehenden Beschlüsse von Paris zu unterschreiben. Zur Ausübung einer derartigen Erpresserpolitik gibt selbst der Versailler Friedensvertrag der Entente kein Recht! Gäbe er es, dann könnte ja Frankreich Mond und Sonne von Deutschland verlangen und bei Verweigerung die besondere Zollgrenze errichten. Aber der Artikel 270 des Versailler Vertrages sagt eben in seinem Nachsatz ausdrücklich, daß nur zur Wahrung der wirtschaftlichen Interessen des Rheinlandes die Zollgrenze errichtet werden darf, nicht aber etwa zur Schädigung Deutschlands und damit auch der Interessen der Bewohner des besetzten Gebietes durch Erhebung neuer unerfüllbarer Forderungen.

Zu Unrecht wirft der „Temps“ ferner Dr. Simons vor, daß er den Versailler Vertrag nicht einhalten wolle und damit die Grundlagen des Friedens überhaupt ablehne. Deutschland hat jederzeit erklärt und steht noch heute auf dem gleichen Standpunkt, daß es den Versailler Vertrag erfüllen will, soweit er eben erfüllbar und soweit die Erfüllung in seinen Kräften steht. Es behauptet aber mit Recht, daß die Pariser Beschlüsse an Deutschland Forderungen stellen, die weit über den Friedensvertrag hinausgehen. Darum steht es im Begriff, Gegenvorschläge zu machen, die einen Weg zur Erfüllung seiner aus dem Friedensvertrag abzuleitenden Verpflichtungen aufweisen wollen, das heißt natürlich immer nur insoweit als Deutschland zu dieser Erfüllung imstande ist. Der „Temps“ hat daher keinen Grund zu seinem Warnruf, die deutsche Regierung bekämpfe den Versailler Vertrag, sie führe ganz Europa und sich selbst auf eine Bahn zu neuem Konflikt. Der grundlegende Irrtum des „Temps“ liegt darin, daß er den Versailler Vertrag und die Pariser Beschlüsse verwechselt und beide als gleichbedeutend behandelt. Sein ganzer Weckruf gipfelt ja gerade in der Forderung, Deutschland dürfe keinesfalls weniger bezahlen als am 29. Januar, also durch die Pariser Beschlüsse ausbedungen sei. Aber in Wirklichkeit wurde am 29. Januar überhaupt nichts ausbedungen, sondern es wurden lediglich Forderungen aufgestellt, die Deutschland für unerfüllbar hält, und über die es sich deshalb weigerte und noch weigert, in London zu verhandeln. Die Londoner Konferenz kann nur dann zu einem wirklichen Uebereinkommen führen, wenn man wieder von Paris nach Versailles zurückkehrt und dann die deutschen Gegenvorschläge anhört, die das Aeußerste darstellen werden, was Deutschland zur Erfüllung der in Versailles unterschriebenen Verpflichtungen zu leisten vermag. Die Wahrheit ist also die, daß Deutschland an Versailles festhalten will, soweit eben die dort ausbedungenen Leistungen nicht über seine Kraft gehen, während Frankreich an Stelle der Versailler Bedingungen die Pariser Forderungen der Londoner Konferenz unterzuschieben versuchte. Hierbei holte es sich in der Tat einen Korb. Indem Simons an die Annahme der Londoner Einladung die Bedingung knüpfte, daß nicht allein auf Grund der Pariser Beschlüsse verhandelt werden dürfe, zwang er die Franzosen, von Paris wieder nach Versailles zurückzukehren. Der französische Triumph über die in Paris erzielten weitergehenden Zugeständnisse Lloyd Georges war also verfrüht. Diese Erkenntnis bereitet dem „Temps“ einen leicht begreiflichen Schmerz. Aber das gibt ihm kein Recht, schon jetzt über Verletzung des Versailler Vertrages zu schreien und nach Gewaltmaßnahmen zu rufen!

Quelle:

Allgemeine Thüringische Landeszeitung vom 18.2.1921

 

Bild:

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