100 Jahre Thüringen
Staatskanzlei Thüringen Weimarer Republik e.V. Forschungsstelle Weimarer Republik an der Uni-Jena

Deutschlands neue Mitte

Der bekannte Theologe und Politiker Ernst Troeltsch (DDP) entwickelt – gewissermaßen als Gegenmodell zu dem gestrigen Essay Stresemanns – hier den Gedanken, dass die junge Republik nur mit einer starken politischen Mitte gesunden könne. Anders als Stresemann drängt Troeltsch jedoch auf den Einbezug der demokratisch orientierten Arbeiterschaft und lehnt eine rein bürgerliche Sammlungspartei ab.

Ernst Troeltsch (1865-1923)

Sammlungspolitik.

Von Staatssekretär Prof. Troeltsch.

Was wir erlebt haben, ist, wenn man historische Vergleiche sucht, nur mit dem Dreißigjährigen Kriege zu vergleichen. Auch die Ursachen sind ähnlich. Damals bestanden die großen Weltspannungen des französischen Reiches gegen die eng verbundenen spanisch-habsburgischen Reiche und drängte von Norden her eine neue, die Herrschaft über das baltische Meer benötigende Großmacht. Das natürliche Schlachtfeld der Auseinandersetzungen und die natürliche Ausgleichs- und Entschädigungsmasse war das deutsche Land der Mitte, das überdies durch seine Glaubensspaltung und durch seine Glaubensspaltung und durch seine dynastischen Gegensätze den geringsten Widerstand zu leisten imstande war und dem damals wesentlich konfessionellen Kampf der Geister der geistigen Zersetzung am meisten offen lag. Der Kampf des Bismarckschen Reiches gegen die Welt, die seine  Uebermacht fürchtet und durch die politisch-soziale Andersartigkeit seines ganzen Aufbaues befremdet und abgestoßen war, ist trotz aller Verschiedenheiten in Gründen und Verlauf recht ähnlich. Aehnlich sind auch die Folgen. Blieb dieses Mal der deutsche Boden von Zerstörung frei, so ist doch eine industrielle Weltwirtschaft und Uebervölkerung viel schwerer in Ordnung zu bringen als das damalige agrarische und dünnbevölkerte Deutschland, und blieb jetzt der Reichsorganismus, wenn auch mit starken Verletzungen und Amputationen, erhalten, so ist er heute doch zugleich durch die Revolution der damals bestehen bleibenden Ordnung und Organisation beraubt.

Die Wiedererholung war damals äußerst langsam, den allgemeinen in viel langsamerem Tempo verlaufenden und viel begrenzteren Weltverhältnissen entsprechend. Es war im wesentlichen das Werk sorgfältiger fürstlicher Verwaltung und eines rationell verfahrenden Beamtentums. Der nach dem Vorbild des französischen Reiches entstehende Absolutismus und dessen in den besseren Staaten patriarchialisch-fürsorgliche, spürsame und wachsame Politik hat die Wiedergeburt bewirkt, daneben eine zunächst pietistisch-individualistische Frömmigkeit in beiden Konfessionen und dann ein aus der westlichen Kultur sich nährender geistiger Aufschwung der oberen, damals sehr schmalen Klassen.

Heute kann die Wiedergeburt nur ausgehen von einem Volksstaat, der mit äußerstem Verantwortlichkeits- und Gemeingefühl aller Beteiligten die politische und soziale Ordnung wiederherstellt, die in Deutschland so besonders gefährlichen und von alten Zeiten her wirkenden Klassendissonanzen überbrückt und ein politisches Verständnis der Versuche und Klugheit, Tapferkeit und Selbstbewußtsein erfordernden Weltlage allgemein arbeitet. Damit muß verbunden sein eine planmäßige Wirtschaftspolitik, die den psychologischen Forderungen des Arbeitertums auf Recht und Mitbeteiligung der Persönlichkeit Rechnung trägt und zugleich den Ertrag und die Verteilung so zweckmäßig als möglich gestaltet. Und schließlich muß das Ganze von einer geistigen Vertiefung und Verinnerlichung getragen sein, die den Menschen die seelische Kraft und den unerschütterlichen Glauben zur Ueberwindung aller dieser Nöte und zum Anschluß an ein trotz aller Lügen und Zynismus bestehendes menschheitliches Ideal der Gesittung und des Rechtes gibt. Die Frage der Monarchie ist dabei gegenwärtig völlig gegenstandslos, die man dem deutschen Volke in späteren und gesünderen Zeiten endgültig zu entscheiden ruhig überlassen kann. Daß das Reich als Verbindung von Dynastien und als auf die preußische Dynastie vermöge ihrer eigentümlichen Militärhoheit wesentlich angewiesene Bundesmaschinerie nicht die Einfachheit und Festigkeit und Gleichartigkeit und Beweglichkeit hatte, die eine Weltkrisis erfordert, das ist ja überdies durch die Ereignisse nur allzu klar bewiesen.

All das ist leicht einzusehen und wird in der Theorie von Unzähligen längst eingesehen. Aber es ist unendlich schwer durchzuführen unter dem quälenden, die wirtschaftliche Not fortwährend steigernden Druck der Feinde und unter der Bedrohung der neuen Staatsordnung von links und rechts. Die einen wollen die radikale Weltrevolution und die diktatorische Herrschaft des Handarbeiters, die anderen wollen vor allem die Einwirkung der Sozialdemokraten um jeden Preis los werden, sei es auch um den Preis der Zertrümmerung des Reiches.

Die neue Staatsordnung ist ein Erzeugnis der Revolution, die ihrerseits ein Erzeugnis der alten tiefen Klassenspaltung des deutschen Volkes und der Niederlage ist, ein Erzeugnis, das dann seinerseits die Niederlage zur völlig zerschmetternden gemacht hat. Es ist einer der Vulkanismen des Völkerlebens, die jenseits von Gut und Böse sind, ein ungeheures Schicksal, demgegenüber alles Moralisieren, Entschuldigen oder Anklagen, Verherrlichen oder Beschimpfen ganz widersinnig ist. Aber wenn die neue Staatsordnung ein Erzeugnis der Revolution ist, so ist sie doch in Wahrheit zugleich das Gegenmittel gegen die Revolution gewesen und ist es heute noch. Denn es handelt sich ja um keine demokratisch-parlamentarisch-republikanische Revolution wie 1848, sondern um eine kommunistisch-sozialistische, wie bei der Pariser Kommune von 1870. Gegen die Diktatur des Proletariats mit allen daraus folgenden Greueln, Zerstörungen und Terrorismen war die deutsche Demokratie ein konservatives Rettungsmittel, daß die in jenen Wirren die Zügel in die Hand nehmenden sozialdemokratischen Führer auch ihrerseits übernommen und anerkannt haben. Sie kannten die drohenden Gefahren und brachten von ihrem Standpunkte aus Opfer. So kam die parlamentarische Republik, die Weimarer Verfassung, die Wirkungsmöglichkeit der Rechtsparteien und die erste Sammlungspolitik hat den Spartakismus niedergerungen und den Rechtsparteien die Möglichkeit gewaltiger Erstarkung gegeben. Der unselige Kapp-Putsch mit all seinen Folgen hat diese erste, naturgemäß unter ungeheuren Schwierigkeiten arbeitenden Sammlungspolitik geschwächt und beinahe zersprengt. Die Notwendigkeit, die demokratische Neuordnung auf die Parteiorganisationen zu begründen, hat das Parteiwesen in einem ungeheuren Maße ins Kraut schießen lassen und bei der deutschen Streitsucht, sowie bei dem Wahn, man könne den Einfluß der Sozialdemokraten durch Parteikampf kurzweg loswerden, zu einer ungeheuren Verzankung des deutschen Volkes geführt. Es hat das ihm allein übrig gebliebene Heilungsmittel in neues Gift verwandelt, es hat die ihm verbliebene Staatsmöglichkeit durch Zertrümmerung der Mittel selbst in Frage gestellt. Es ist ein Erbe unseliger deutscher Geschichte, daß ein Gefühl der Gesamtverantwortlichkeit des Volkes für sein Glück und Schicksal bei uns nicht hat aufkommen können und daß jede, andere Nationen bekömmliche politische Freiheit bei uns zur Gefahr der Selbstvergiftung führt. Wir sind in dieser Hinsicht hinter den westlichen Nationen um Jahrhunderte zurück, wenn auch unsere Einbildung uns immer wieder alle möglichen Ueberlegenheiten vortäuscht.

Was ergibt sich aus alledem für den Moment und für die Zukunft? Die Antwort ist einfach: die Aufgabe einer Sammlungspolitik, die über die bisherige Koalition noch hinausgreift, die den Arbeiter und seine psychologisch begründeten Forderungen anerkennt und mit ihm als einem wesentlichen Subjekt des Staates und der Wirtschaft ehrlich rechnet, die aber ebenso die technischen wirtschaftlichen Notwendigkeiten wahrt oder verbessert und im übrigen alle ehrlichen Menschen um die Erhaltung des Reiches schart. Der Minister Stegerwald hat derartige Gedanken bereits klar ausgesprochen. Sie sind die richtigen. Wir bedürfen einer neuen Sammlungspolitik, einer neuen Mitte, eines reineren und stärkeren, edleren und selbstloseren Nationalgefühls und einer besonnenen, Zunge, Feder und Gedanken zügelnden politischen Klugheit. Die große Frage ist, ob das deutsche Volk die politische, intellektuelle und moralische Kraft hierzu überhaupt besitzt. An sein Volk glauben, heißt an diese Kraft glauben und alles tun, um sie bei sich und anderen zu stärken. Damit muß jetzt ernstlich angefangen werden.

Quelle:

Weimarische Landeszeitung vom 2.1.1921

 

Bild:

Troeltsch 1907 - Ernst Troeltsch – Wikipedia