100 Jahre Thüringen
Staatskanzlei Thüringen Weimarer Republik e.V. Forschungsstelle Weimarer Republik an der Uni-Jena

Europas und Deutschlands Gesundung

In diesem Artikel legt der DVP-Vorsitzende und spätere Außenminister Gustav Stresemann seine Neujahrsgedanken zur Konsolidierung der Parteienlandschaft, den anstehenden Wahlen und außenpolitischen Herausforderungen dar. Er hebt hervor, dass die weitere Entwicklung des Kontinents von einem starken Deutschland abhängt.

Gustav Stresemann (1878-1929)

Politische Aufgaben im neuen Jahre.

Von Gustav Stresemann, M. d. R.

Das Kennzeichen der Verhältnisse, unter denen wir in das neue Jahr eintreten, ist das Fehlen aller festen Grundlagen für eine Vorausbestimmung der äußeren und inneren Lage. Mehr als zwei Jahre nach der Beendigung des Weltkrieges wissen wir noch nicht einmal, wie hoch die Summe der uns auferlegten Kriegsentschädigung sein wird, wissen wir nicht ob Oberschlesien deutsches Land bleiben oder uns verloren gehen soll, was trotz günstiger Abstimmung in den Händen der Entente liegt. Ohne feste Grundlage scheint aber auch die Entwicklung der Verhältnisse in den andern Ländern. Das russische Rätsel ist noch nicht gelöst. Polen steht vor der Ungewißheit, ob mit einem bolschewistischen Angriff neu gerechnet werden muß. Die innere Zersetzung dieses Landes schreitet anscheinend ebenso vorwärts wie sein wirtschaftlicher und finanzieller Niedergang. Ungewißheit herrscht über das Schicksal Irlands und sein Verhältnis zu England. In den Beziehungen zwischen Italien und Jugoslawien liegt eine Reihe ungelöster Fragen und die Rolle, die d’Annunzio in Fiume spielen kann, zeigt an einem besonderen krassen Beispiel, wie weit die Autoritätslosigkeit der Siegermächte vorgeschritten ist. Die Friedensschlüsse, die dem Weltkrieg folgten, sollten eine neue Epoche friedlicher Entwicklung der Völker sollte die Grundlage dieser Entwicklung bilden, die Machtpolitik verbannt und der Völkerbund der große Gedanke friedlicher Menschheitsentwicklung sein. Heute ist von diesen Ideen, soweit sie überhaupt von einzelnen ernst genommen waren, nichts als ein Trümmerfeld übrig geblieben. Ein Völkerbund ohne Rußland, Amerika und Deutschland verdient diesen Namen nicht. Die Ungewißheit über das, was werden soll, wird noch vermehrt durch die völlig neue Orientierung der amerikanischen Politik, die sich allerdings erst auswirken kann, wenn Harding das Amt des Präsidenten auch wirklich übernommen haben wird. Der Gedanke des Völkerbundes hat jedenfalls in den Vereinigten Staaten in seinem Hauptträger Wilson eine katastrophale Niederlage erlitten. Der Gedanke einer wirtschaftlichen Verbindung der Rohstoffländer mit den Ländern der verarbeitenden Industrie, der Wiederaufbau des alten Gedankens der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung scheint viel mehr den Gedankengängen des neuen Amerikas zu entsprechen als die Völkerbundgedanken. Aber auch auf diesem Gebiete des Wiederaufbaus der weltwirtschaftlichen Beziehungen und der Lösung der großen finanziellen Probleme, der Frage, ob Reichskredit oder Privatkredit, sind wir um keinen Schritt vorwärts gebracht worden. Es wird dem künftigen Jahr erst vorbehalten sein, die allmähliche Lösung der Fragen vorzubereiten, die durch die Friedensschlüsse nach dem Weltkrieg bedingt sind, Friedensschlüsse, die nicht die ruhige Entwicklung, sondern die Unruhe und eine Menge ungelöster Fragen in die Welt gebracht haben und uns immer wieder den Satz jenes österreichischen Staatsmannes in die Erinnerung zu rufen, daß die Welt einst weniger danach fragen werde, wer den Weltkrieg verschuldet habe, als danach, wer die Schuld und die Verantwortung für diese Friedensschlüsse trage.

Auch auf dem innerpolitischen Gebiet können wir nicht von einer Festigkeit der Verhältnisse sprechen. Die im Reich neugebildete Regierung war eine Minderheitsregierung, die auf wohlwollende Neutralität von rechts und links angewiesen war. Erschwerte schon das Fehlen einer Mehrheit die Regierungsgeschäfte, so war das noch in höherem Maße der Fall durch das Bestehen einer preußischen Regierung, in der die alte Koalition sich fortsetzte, die nach ganz anderen Gesichtspunkten arbeitete und unter maßgebender Führung der Sozialdemokratie stand. Die Unstimmigkeiten, die hierdurch verursacht worden sind, werden erst beseitigt sein, wenn das Ergebnis der nächstjährigen preußischen Wahlen vorliegt und wenn auf Grund dieser Entscheidung die Frage der Regierungsbildung in Preußen neu gelöst sein wird. Deshalb sind die preußischen Wahlen von ebenso großer Bedeutung wie die Wahlen zum ersten Reichstag des neuen Deutschland. Namentlich für die Sozialdemokratie werden sie Schicksalsbedeutung haben. Der Zerfall der unabhängigen Partei hatte starke Hoffnungen in dem mehrheitssozialistischen Lager geweckt. Man sah eine starke in der Reichsregierung führende sozialistische Partei neu entstehen, die nicht nur Preußen, sondern auch dem Reich und den andern Parteien das Gesetz des Handelns vorgeschrieben hätte. Seit dem Ausfall der Wahlen in Sachsen haben aber auch wohl die Sozialdemokraten erkannt, daß nicht alle Blütenträume reisen und haben deshalb ihrer Opposition gegen die heutige Regierung nicht in dem Maße die Zügel schießen lassen, wie es bei einem Wahlsieg in Sachsen wohl der Fall gewesen wäre. Auch der Vertagung der Entscheidung über die Sozialisierungsfrage und die verhältnismäßig maßvollen Darlegungen, die sich an die Interpellation über die Sozialisierung im Reichstag anknüpften, zeigten das Abwarten der Parteien bis zur Entscheidung über die politischen Verhältnisse in Preußen, die auch die Frage eines politischen Blocks der bürgerlichen Parteien oder der Bildung einer nach links verstärkten Koalition der gegenwärtigen Regierung mit entscheiden wird. Diese Entscheidung ist von größter Tragweite für die kommende politische Orientierung.

Stresemann vor dem Völkerbund, 1926

Vielleicht hängt es mit der Unsicherheit aller Verhältnisse zusammen, daß eine gewisse Resignation in bezug auf die Parteipolitik sich öffentlich bemerkbar macht. Die Empfindung dafür, daß die Herbeiführung gesunder Verhältnisse nicht das Werk einzelner Parteien sein kann, ist im Wachsen begriffen. Der alte konfessionelle Gegensatz in Deutschland, der zur Bildung der Zentrumspartei führte, beginnt im neuen Deutschland mehr und mehr zu schwinden. Die Auseinandersetzungen, die sich an die Rede des preußischen Zentrumsministers Stegerwald anknüpften, zeigten sichtlich einmal die Bedeutung des Zurücktretens konfessioneller Fragen und zweitens über den Rahmen des Zentrums hinaus das Sehnen weitester Kreise nach einem weitgehenden Zusammenschluß aller aufbaufreudigen Elemente. In der Tat ist dieses Sehnen im Volke stark vorhanden und es kommt auch bei den parlamentarischen Verhandlungen zum Ausdruck, wenn auch hier dieses sachliche Bestreben gelegentlich von fraktionstaktischen Erwägungen durchkreuzt wird. Vielleicht führen die hier berührten Gedankengänge zu weitgehender interfraktioneller Gemeinschaftsarbeit und zur Bildung einer von Zufälligkeiten unabhängigen, tragfähigen Regierung im Reich und in Preußen. Nur glaube man nicht, diese Frage lösen zu können durch neue Parteifusionen, die schließlich in den Gedanken einer einheitlichen bürgerlichen Partei ausmünden. Es ist richtig, daß die alten Begriffe des Konservatismus, des Sozialismus marxistischer Prägung wie des Liberalismus manchesterlicher Prägung ihre Bedeutung verloren, und daß die neuen Parteien noch nicht so fest in der Lebensauffassung ihrer Anhänger verwurzelt sind, wie einstmals die Parteien des alten Deutschland. Wer das politische Leben aus Erfahrung kennt, weiß aber, daß bei dem Individualismus des deutschen Bürgers eine große bürgerliche Partei und Fraktion viel schwerer zur Einheit des Wollens und Wirkens geführt werden könnte, als nebeneinander bestehende Parteibildung. Soweit Ideen einer Partei Allgemeingut weitester Kreise geworden sind, werden diese in der Wählerschaft selbst die Stärkung der Partei herbeiführen, die am meisten der allgemeinen Auffassung in ihrer Haltung entspricht. Was für die Gegenwart notwendig erscheint, ist zunächst die Idee burgfriedlicher Nebeneinanderarbeit und ein Zurückstellen der Parteiidee gegen die Gesamtidee des Wiederaufbaues. Von einzelnen Entgleisungen abgesehen, ist dieses Nebeneinanderarbeiten auch in dem Verhältnis der Regierungsparteien zueinander erreicht worden. Es darüber hinaus zu einem Gesamtbegriff des Parteilebens zu entwickeln, wird die Aufgabe namentlich der nächsten Zukunft sein und die Wählerschaft selbst wird hierbei entscheidend mitwirken können.

In allgemeiner Ungewißheit, mit der wir in das neue Jahr hineingehen, bleibt ein aber doch festzustellen: Es geht unzweifelhaft eine Konsolidierung der Verhältnisse in Deutschland vor sich. Trotz schwieriger Wirtschaftslage haben die Versuche bolschewistischer Agitatoren, die Massen zu revolutionären Taten zu bewegen, bisher keinen Erfolg gehabt. Die Zahl der Streiks und Arbeitseinstellungen ist noch immer bedenklich groß und auch die Beamtenschaft ist von einer ihr sonst fernliegenden Bewegung angesichts ihrer unzweifelhaft schwierigen Lage mit ergriffen worden. Aber diese Erscheinungen einer weitgehenden Lockerung früherer Autoritätsbegriffe beschränken sich doch nicht auf Deutschland, sondern sind Begleiterscheinungen, die der Weltkrieg bei allen Völkern hervorgebracht hat. Wenn wir die Besserung ins Auge fassen, die auf wirtschaftlichem Gebiet, auf dem des Verkehrs, oder in der Frage der Staatsautorität, des Funktionierens des Regierungsapparates und der ruhigeren Betrachtung der Dinge vom Standpunkt aller Klassen aus erzielt worden sind und uns demgegenüber der Tage erinnern, in denen um die Jahreswende 1918/19 der Kampf in der Reichshauptstadt und das völlige Daniederliegen jeden Staatswillens den tiefsten Niedergang des Reiches nach innen zeigten, so ist doch der Fortschritt der inneren Gesundung ganz unverkennbar. Ein unentbehrlicher Mitkämpfer auf dem Gebiete sittlichen Fortschritts ist dabei auch der Teil der deutschen Jugend, der sich mit Bewußtsein dagegen wendet, daß die Entsittlichung der Großstädte ein Sinnbild deutscher Volksauffassung sei. Die gesunden Kräfte unseres Volkes haben sich doch wieder geregt. Der alte Sinn für Ordnung, Ruhe und Arbeitsfreudigkeit belebt sich wieder in den weitesten Volksschichten. Wenn unsere Feinde in Brüssel nicht den Wiederaufstieg des deutschen Volkes absichtlich verkümmern oder uns zugrunde richten, dann sind die sittlichen Voraussetzungen dafür gegeben, daß Deutschland zur Gesundung schreiten kann und damit zur Gesundung Europas mit beiträgt. Das ist bei aller Ungewißheit der Einzelprobleme die sichere Ueberzeugung, mit der wir an die weitere Entwicklung der Verhältnisse herangehen können.