100 Jahre Thüringen
Staatskanzlei Thüringen Weimarer Republik e.V. Forschungsstelle Weimarer Republik an der Uni-Jena

Niemandsland Memel

In diesem Interview mit dem Reichskommissar für das Memelgebiet – Georg Graf von Lambsdorff (1863-1935) – werdend die vielfältigen politischen und verwaltungstechnischen Probleme des kleinen, sehr armen Landstriches an Deutschlands nordöstlichster Grenze dargestellt. Das mehrheitlich litauisch-sprachige, aber protestantisch geprägte Gebiet wurde 1919 vom Reich abgetrennt und steht unter der Verwaltung der Entente, bis es 1923 gewaltsam von Litauen annektiert wird.

Karte des Memelgebietes

Die Zwitterbildung des Freistaates Memel.

Eine Unterredung mit dem Reichs- und Staatskommissar für das Memelgebiet, Grafen Lambsdorff.

Von Dr. Jaenecke.

In Memel wurde ich von dem Reichs- und Staatskommissar für das Memelgebiet, Grafen Lambsdorff, empfangen, der mir in liebenswürdigster Weise ein mehrstündiges Interview über die hauptsächlichen wirtschaftlichen und politischen Fragen des Freistaates Memel gewährte. Die folgende Darstellung bildet sowohl den Niederschlag dieser Unterredung als auch das Ergebnis eigener Beobachtungen.

Die Funktionen des Reichskommissars sind dreifacher Natur. Er hat die Abwicklungsgeschäfte, wie Uebergabe des Staatseigentums (Bahnen, Forsten, Ströme, Häfen) und Ueberleitung der Verwaltung zu vollziehen, dann aber konsularische und schließlich auch diplomatische Geschäfte vorzunehmen. Einen besonders ernannten Konsul und Geschäftsträger hat in Memel weder das Deutsche Reich, noch der Nachbarstaat Litauen. – Bei Abtretung des Memelgebietes hat Graf L. in der Zeit vom 10. Januar bis 10. Februar 1921 die einzigartige Doppelstellung als Beauftragter der Entente einerseits und des Deutschen Reiches und Preußens andererseits bekleidet. Während dieser Frist hat er als von der Entente eingesetzter „absoluter Herrscher“ sämtliche Behörden und Gesetzen bestehen lassen und im Wege autokratischer Verfügung vom 10. Januar 1920 den neuen Kreis Pogegen gebildet. Maßnahmen, die der französische General Oudray bei der Uebergabe des Memelgebietes am 15. Februar 1920 ausdrücklich anerkannt hat und bis heute gültig ließ.

Das abgetretene Memelgebiet zählt 150.000 Einwohner. Es besteht aus dem Stadt- und Landkreise Memel und aus dem nördlich gelegenen Teil des Kreises Heydekrug, Tilsit und Ragnit. Die letzteren bilden jetzt dem vorerwähnten Kreis Pogegen. Die Bevölkerung dieses seit über 500 Jahren zu Deutschland gehörigen Gebietes ist verschiedensprachig und, soweit litauischer und deutscher Abkunft, mit einem verschwindenden Bruchteil protestantisch, während die lettische Bevölkerung jenseits der Grenze im polnischen Sinne orthodox-katholisch ist. Die größte Bedeutung des Memelgebietes liegt in seinem großen Strom, dessen Vorhandensein deutscherseits viel zu wenig gewürdigt wird.

Der bis Grobno schiffbare Strom bildet eine Verkehrsader bis in der Herz von Rußland hinein und ist die Holzschiffahrtstraße nach Wolhynien, Podolien und Libau, wenngleich er auf russischer Seite noch immer nicht reguliert ist. Der Besitz dieses Stromes war für die siegreiche Entente vermutlich auch das Motiv zur gewaltsamen Aneignung des Memellandes ohne vorherige Volksabstimmung.

Briefmarken des Memelgebietes

Heute ist das Memelgebiet ein absolut regierter Staat mit einem Gouverneur, dem französischen General Oudray, an der Spitze, der die Ententemächte vertritt und den sogenannten „Freistaat“ in deren Namen als Mandatar verwaltet. Er ist gleichzeitig Träger der Souveräntität und diplomatischer Vertreter Frankreichs für das Memelland. Unter ihm steht als Zivilkommissar der französische Präfekt Petisné. Gouverneur und Zivilkommissar üben die Funktionen von Minister und Oberpräsident aus. An Stelle des Regierungspräsidenten, Landeshauptmanns besteht ein auf unbestimmte Zeit vom Gouverneur ernanntes Landesdirektorium. Außerdem gibt es einen nach Art ständischer Vertretungen gewählten Staatsrat, dessen Mitglieder sich aus den Stadtparlamenten, Kreistagen, Handels- und Landwirtschaftskammern, den Gewerkschaften, Beamtenorganisationen, sowie den dort hochbedeutsamen Fischereivereinen rekrutieren. Diese Wahl, um deren Gang sich der Gouverneur nicht bekümmert hat, ist nach dem preußischen Wahlverfahren erfolgt, wobei auch das neuzeitliche Wahlgesetz angewendet wurde. Der nur in wirtschaftlichen Fragen kompetente Staatsrat hat lediglich beratenden Charakter. Vorsitzender ist der französische Präfekt. Die Landräte und Bürgermeister sind ebenso wie die Selbstverwaltungsbehörden: Magistrat, Kreistag und Kreisausschuß, in alter Besetzung bestehen geblieben. Hinzugekommen ist für jeden Kreis ein französischer Kontrollbeamter mit begrenzter Zuständigkeit.

Ebenso wie das Schulwesen unverändert blieb, sind die kirchlichen Beziehungen des Memellandes zum Reich aufrecht erhalten geblieben. Der Gouverneur selbst mischt sich nach dem französischen Prinzip absoluter Trennung von Kirche und Staat in keiner Weise in kirchliche Fragen ein. Sämtliche Beamtengehälter und kirchlichen Abgaben werden seit dem 10. Januar 1920 vom Memelfonds bestritten.

[…]

Die Reichswährung gilt fort. In Memel selbst befindet sich eine Reichsbanknebenstelle mit einem Reichsbankdirektor, sowie eine Anzahl anderer deutscher Banken. Mit dem Reich bildet Memel noch heute ein einheitliches Postgebiet mit Inlandtaxen. Die ursprünglich verwendeten deutschen Marken bekamen später den Aufdruck „Memel“, daneben galten mit gleichem Aufdruck französische Marken, die ab 1. November 1920 allein in Geltung blieben und deren Herstellungskosten privatvertraglich von Memel Frankreich gegenüber getragen werden.