100 Jahre Thüringen
Staatskanzlei Thüringen Weimarer Republik e.V. Forschungsstelle Weimarer Republik an der Uni-Jena

Soll Thüringen die Prügelstrafe abschaffen?

Die sozialliberale Landesregierung beabsichtigt im Rahmen ihrer Schulreformen eine Abschaffung des Züchtigungsrechtes der Lehrer. Die organisierte Lehrerschaft läuft hiergegen Sturm, wie dieser Artikel zeigt, der die vermeintliche Notwendigkeit der Prügelstrafe betont. Die Landesregierung ist mit dieser Initiative ihrer Zeit voraus. Prügelstrafen wurden beispielsweise in Großbritannien erst Ende 1990er Jahre vollständig abgeschafft.

Zeichnung von Theodor Hosemann, 1842

Die Thüringische Lehrerschaft und das Züchtigungsrecht.

Weimar, den 8. Januar 1921.

Die Angriffe, die das Züchtigungsrecht der Lehrer fortgesetzt erfährt und die neuerdings auch in Regierungserlassen ihren Niederschlag fanden, geben dem Vorstande des Thüringer Lehrerbundes Veranlassung, zu dieser Angelegenheit in folgendem grundsätzlich Stellung zu nehmen:

1. Die deutsche Erziehungswissenschaft hat es immer als Ideal der Schulerziehung bezeichnet, körperlichen Zwang möglichst zu vermeiden, ihn durch Appell an das Sachinteresse, das Ehrgefühl und die Vernunft des Zöglings er ersetzen und nur als letztes äußerstes Mittel zur Aufrechterhaltung von Zucht und Ordnung in der Schule anzuwenden. Ganz im Sinne dieser Anschauung sieht die Lehrerschaft in der Befugnis, körperlichen Zwang anzuwenden, nicht ein „Recht“, das der Lehrer zu seiner eigenen Genugtuung ausübt, sondern vielmehr eine unerquickliche Pflicht, die ihm übertragen ist, um die guten Elemente in der Schuljugend vor den übelgearteten und übelerzogenen zu schützen, den Fortgang des Unterrichts diesen gegenüber zu sichern und auch die Rechte der Erwachsenen der „lieben Jugend“ gegenüber zu wahren – eine Pflicht, die dem ausübenden Teile immer mehr Gefahr und Schaden, körperlich und seelisch, bringt wie dem betreffenden Zögling.

2. Die Lehrer sind im eigenen Interesse sehr gern bereit, auf jenes „Recht“ zu verzichten, wenn man ihnen auch die Pflichten abnimmt, die damit untrennbar verbunden sind, und ihre Aufgabe dementsprechend neu umgrenzt. Sie sind insbesondere immer bereit, die Frage zu erörtern, wie das Mittel körperlichen Zwanges aus dem Schulbetriebe auszuschalten sei.

Es kann diese Ausschaltung nur so gedacht werden, daß man dem Lehrer in der allgemeinen Zwangsschule dieselben Mittel zur Zucht in die Hand gibt, mit denen die höheren Schulen auf den Zögling wirken können und zwar viel nachdrücklicher als es die Volksschule mit ihrem „Züchtigungsrechte“ vermag. Diese Mittel liegen begründet in den sozialen Vorteilen, die die höhere Schule ihren Schülern bietet, wobei die Erwerbung von Schulzeugnissen zu einer Lebensfrage für den Zögling und zu einer Ehrenfrage für seine Familie wird; und sie finden Ausdruck besonders in der Befugnis der Lehrer, widerstrebende oder ungeeignete Schüler von der Schulanstalt zu verweisen.

Die Uebertragung dieser Machtmittel auf die Volksschule würde bedingen, daß man die Bekleidung öffentlicher Aemter von dem regelmäßigen und erfolgreichen Besuche der Volksschule abhängig macht und so dem Schulzeugnis ein praktisches Gewicht verleiht – und daß man dem Lehrer das Recht gibt, Zöglinge, die den Schulbetrieb stören, aus dem Unterricht zu entfernen. Damit würde allerdings die Volksschule ihren Charakter als allgemeine Zwangsschule notwendigerweise einbüßen und zu einer Bildungsanstalt für die wirklich Bildungswilligen werden; die Verantwortlichkeit des Lehrers für die Durchführung des Lehrplans, die Förderung der Kinder zu bestimmten gesetzlichen Zielen, ebenso seine Verpflichtung, gegenüber dem Verhalten des Schülers außer der Schule als Strafrichter zu fungieren, hätte keinen Sinn mehr. Doch muß die Sorge um die praktische Durchführung aller dieser Folgerungen denjenigen überlassen werden, die den jetzigen Zustand durchaus ändern wollen.

Verzeichnis von Stockschlägen an einer britischen Schule

3. Wenn nun aber in der jetzigen Zeit, da die Klagen über die Zuchtlosigkeit der Jugend täglich lauter und der Schule mehr als je zum Vorwurf gemacht werden, Schulbehörden es fertig bringen, dem Lehrer das letzte und äußerste Mittel der Zucht aus der Hand zu winden, ohne seine Erziehungspflicht irgendwie zu ändern oder ihm andere wirksame Mittel zu ihrer Erfüllung zu verleihen, so sehen wir darin nicht nur eine vollständige Verkennung dessen, was der Jugend jetzt not tut, sondern auch ein bedenkliches Zeichen der Unzulänglichkeit, einen Mangel an jener Gerechtigkeit und Folgerichtigkeit, die oberste Richtschnur jeder Staatshandlung sein müssen, sehen darin den Ausfluß rein demagogischer Regierungsweise, die wohl den Staatsdienern Pflichten diktieren kann, nicht aber die Kraft hat, dem zeternden Unverstande entgegenzutreten.

4. Die Lehrerschat sieht sich solcher ungerechten Behandlung gegenüber genötigt, auf Selbsthilfe zu sinnen, und hofft, daß ihr die wohlmeinende und bildungsfreudige Mehrheit unseres Volkes in ihrem höchsten und eigensten Interesse ihre Unterstützung nicht versagt. Denn es handelt sich hier nicht um das persönliche Wohlsein der Lehrer, sondern um die Frage, ob in und außerhalb der Schule die guten strebsamen Elemente der Jugend gefördert oder ob die üblen herrschen sollen, ob die Idee der allgemeinen einheitlichen Volksschule ihren Wert und ihr Ansehen behalten soll.

5. Die Haltung, die die Lehrer überall zu beobachten haben, wo man etwa in der oben gekennzeichneten einseitigen Weise vorgehen würde, ist klar vorgezeichnet. Sie lehnen in diesem Falle jede Art von Zwang auf die ihnen anvertrauten Schüler ab und überlassen jede strafende Einwirkung den Eltern und den Schulbehörden. Sie lehnen es insbesondere ab, gegenüber den Vergehungen von Schulkindern außer der Schule strafend einzugreifen. Sie werden auch künftighin ihre Pflicht in vollem Maße zu erfüllen suchen, weisen aber die Verantwortung für die Erreichung der Lehrziele und das Aufrücken der Schüler in höhere Klassen ab.

6. Da die Vorurteile im Publikum über das Walten der Schulzucht und den inneren Schulbetrieb überhaupt zum großen Teil auf Mangel an persönlicher Anschauung beruhen, so empfiehlt der Vorstand des Thüringer Lehrerbundes allen Amtsgenossen, in Zukunft aus eigener Entschließung den Unterricht im weitgehendsten Maße, soweit es mit dem Schulinteresse vereinbar ist, den Eltern der Kinder zugänglich zu machen.