100 Jahre Thüringen
Staatskanzlei Thüringen Weimarer Republik e.V. Forschungsstelle Weimarer Republik an der Uni-Jena

Thüringer Verfassung vor der Verabschiedung

Die Beratungen über den Entwurf der Thüringer Verfassung im betreffenden Landtagsausschuss machen große Fortschritte. Ausstehende Streitpunkte betreffen das Wahlrecht und die Volksbegehren. Das Volk ist optimistisch und verurteilt die anhaltend destruktive Haltung der Linkssozialisten und der Rechtsparteien.

Die Villa Rosenthal in Jena

Die endgültige Verfassung Thüringens

Weimar, 29. Januar 1921.

Der durch Delegation aus den früheren Landtagen der ehemaligen Thür. Freistaaten entstandene Volksrat hatte am 12. Mai 1920 unter Zugrundelegung eines Entwurfes des Prof. Rosenthal-Jena eine vorläufige Verfassung für Thüringen beschlossen. Dieses Grundgesetzt sollte innerhalb sechs Monaten nach Zusammentritt des ersten, jetzigen Landtags mit einfacher Stimmenmehrheit abgeändert werden können. Endtermin dafür wäre also der 20. Januar 1921 gewesen. Das Fehlen einer auf Grundlage des jetzigen Landtages gewählten Regierung im Sommer und mehrere andere, hier nicht zu erörternde Gründe veranlaßten den Landtag, den Endtag der erwähnten Frist von sechs Monaten bis zum 31. März 1921 hinauszuschieben; jedoch sollte diese Frist schon vorher durch die Verabschiedung der Verfassung außer Kraft gesetzt werden.

Die vorbereitenden Verhandlungen für den Abschluß der Verfassung haben den Gesetzgebungs- und Verfassungsausschuß in der ersten Hälfte dieser Woche, wie wir bereits meldeten, beschäftigt. Da die Presse noch immer keinen Zutritt zu den Ausschußverhandlungen hat, der Ausschuß es auch nicht für nötig befunden hat, Berichte an die Oeffentlichkeit zu geben, so haben wir uns angesichts des politischen Interesses an einige mit der Materie vertraute Herren gewandt und folgendes erfahren:

Der § 6 II der vorläuf. Verf. Soll im zweiten Satz folgenden Wortlaut erhalten:

„Die hiernach in den Wahlkreisen unberücksichtigt gebliebenen Stimmen sind durch das ganze Land für den von der betreffenden Partei oder Wählergruppe einzureichenden Landeswahlvorschlag zusammenzuzählen und dabei nach dem vorhergehenden Satze zu bewerten.“

Abgelehnt wurde mit der gesamten Linken folgender Absatz:

„Mehrere Wahlvorschläge können miteinander verbunden werden. Die verbundenen Wahlvorschläge gelten den anderen Wahlvorschlägen gegenüber als ein Wahlvorschlag.“

Angesichts der Erfahrungen der Juli-Krise wurde vom Ausschuß folgende Erleichterung der Landtagsauflösung beschlossen:

„Eine Auflösung des Landtags erfolgt durch einen Beschluß mit der Mehrheit der gesetzlichen Zahl (z. Zt. 53) der Stimmen der Abgeordneten oder durch die Landesregierung, wenn ein Volksentscheid die Auflösung beschlossen hat.“

Ebenso glaubte der Ausschuß das Volksbegehren zu erleichtern; ein Volksentscheid soll nämlich herbeigeführt werden, wenn es ein Zehntel (statt bisher ein Drittel) der Zahl der Stimmberechtigten der letzten Landtagswahl verlangt. Abgelehnt wurde dagegen die Schaffung eines Ministerpräsidenten und die für ihn neben der übrigen Kabinettswahl zu erfolgende Sonderwahl, weil sich die Ausschußmehrheit von solchem Vorgehen keine Erleichterung der Regierungsbestellung versprechen konnte.

Einstimmig beseitigte der Ausschuß dann die Bestimmung, daß nur wählbare Landeseinwohner Regierungsmitglieder werden können. Ebenso einig war sich der Ausschuß ferner bei der Regelung der Förmlichkeiten der Ministerbestellung und der Klärung einiger Streitpunkte der vorläufigen Verfassung, wie auch bei der Streichung einiger Bestimmungen der vorläufigen Verfassung, die sich nur auf die erste Landtagswahl bezogen.

[…]

In einer Resolution empfahl der Ausschuß schließlich noch dem Landtage, hinfort den Landtagsvorstand bei der Bildung der Regierung mit der Einleitung der Kabinettsbildung zu beauftragen und stimmte dann dem Entwurf der endgültigen Verfassung mit allen gegen eine kommunistische Stimme, die prinzipiell gegen die Verfassung ist, zu.

Die Beratung der endgültigen Verfassung liegt nun dem Plenum ob, das am Dienstag zusammentreten wird. Aus den Ausschußverhandlungen ergeben sich wenige große Streitpunkte; dennoch wird der Landtag bei der Verfassungsberatung „große Tage“ allgemeiner Aussprache haben. Die Deutschnationalen und die Fachleute der Kettensprengerei werden ihre tiefe Inbrunst für desertierende Monarchen dem preußischen Wahlbarometer entsprechend unverhohlen oder keusch-züchtig verstohlen zum Ausdruck bringen und sicher werden wider Willen verschluckte Kaisergeburtstagstoaste steigen. Interessant wird es jedoch werden, wie immer man auch zum Landbund steht, zu sehen, ob die Orghöf-Richtung (Oberdeutsch-Höfer, Klau-Focke, Härtrich, Wernick) nach einem putschistischen Schnadahüpfl auf dem „Sargdeckel Thüringens“ tanzt oder ob die wirtschaftlichere Richtung mal ihre Stellung zur Thüringischen Republik erklären darf. Auf der Linken werden wir sodann als notwendige Frucht der „lieblichen“ Spaltung der Arbeiter Flohknackereien über Demokratie und Diktatur vernehmen. Die bewußten Zersplitterer werden sich theoretisch allerschärfst von den schon Neuigen trennen, so daß die Purzelbäume von Moskau bis Gotha nur so rollen werden; der Rechten zur Wonne, dem Proletariat aber zur – Sättigung.

Quelle:

Das Volk vom 29.1.1921

In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00226548/Das_Volk_1921_01_0165.tif

 

Bild:

Rosenthalvilla Jena 2014 - Eduard Rosenthal – Wikipedia