Und die Juden geraten zwischen die Fronten…
Die deutsch-polnischen Auseinandersetzungen spitzen sich im Vorfeld der Volksabstimmung in Oberschlesien zu. Von Seiten polnischer und deutscher Nationalisten werden in diesem Kontext antisemitische Narrative verbreitet, wie das linksliberale Jenaer Volksblatt beklagt.
Der Antisemitismus als polnischer Helfer in Oberschlesien.
Es ist außerordentlich lehrreich, daß jetzt die Polen in Oberschlesien den Antisemitismus zu Hilfe nehmen, um gegen Deutschland Stimmung zu machen. Nach einer Pariser Meldung bringt die französische Presse die Nachricht, daß Lloyd George unter dem Einfluß der englischen Juden, die polenfeindlich gesinnt seien, beschlossen habe, Oberschlesien entgegen den Bestimmungen des Versailler Friedensvertrages den Deutschen abzutreten. Der Sinn dieser törichten Meldung ist klar: die deutschen Bemühungen, Oberschlesien bei Deutschland zu halten, sollen als jüdische Mache hingestellt werden. Daß übrigens in Polen der Antisemitismus heimisch ist, darf als bekannt angenommen werden. Je rückständiger in der Kultur ein Volk, umso verbreiteter der Antisemitismus. Oberschlesien hat zahlreiche jüdische Stimmen, daher wäre es auch für die deutschen Antisemiten endlich an der Zeit, ihrer Agitation etwas die Zügel anzuziehen. Leider aber kann man das Gegentiel feststellen. Der Pastor Dr. Max Maurenbrecher, der jetzt die Redaktion der völkischen „Deutschen Zeitung“ übernommen hat, entblödet sich nicht, zu schreiben: „Es muß die Ursünde des 19. Jahrhunderts, die Aufnahme der Juden in Staat und Gesellschaft, als wären sie Deutsche, wieder rückgängig gemacht werden. Anders gibt es keine Erlösung.“ Obwohl gar kein Zweifel darüber besteht, daß die deutschen Juden in Oberschlesien ihre vaterländische Pflicht ebenso wie ihre christlichen Mitbürger erfüllen werden, so sollte man doch jetzt dafür wirken, daß sie das mit Freuden tun, nicht aber mit dem bitteren Gefühl, daß es in Deutschland in einer reichshauptstädtischen Zeitung heute noch möglich ist, die bürgerliche Entrechtung der Juden zum Programm zu erheben. Aber an Oberschlesien denkt der blinde Hödur in der „Deutschen Zeitung“ nicht, wenn es um sein Parteisüpplein oder seine einträgliche Hetze geht.
Quelle:
Jenaer Volksblatt vom 7.1.1921
In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00273784/JVB_19210107_005_167758667_B1_001.tif