Wirtschaftschaos auf den britischen Inseln
Die unmittelbare Nachkriegszeit ist für das Britische Empire eine Periode der territorialen Ausdehnung bei gleichzeitigen schweren innerpolitischen Konflikten. Neben dem Irischen Unabhängigkeitskrieg betrifft dies vor allem die Wirtschaft, die auf eine industrielle Arbeitsteilung mit dem besiegten Deutschland angewiesen ist, so wie sie vor dem Krieg üblich war.
Die Krise in England
Von
Dr. Eberhard Zschimmer, Jena
England leidet zurzeit unter einer tief das englische Wirtschaftsleben einschneidenden Krise des Handels und der Gütererzeugung, verbunden mit täglich wachsender Zunahme der Arbeitslosigkeit. Der Rückgang des englischen Ausfuhrhandels kommt deutlich zum Ausdruck in der Statistik für Dezember, worin sich eine Abnahme um 24,9 Millionen Pfund Sterling zeigt. Darunter: Baumwolle um über 10 Millionen, Wollwaren 3 ½ Millionen, Stahl und Eisen über 2 Millionen Pfund. Mit Ausnahme des Monats Februar ist die Gesamtausfuhrziffer für Dezember 1919 die niedrigste im ganzen Jahr. Allgemeiner Preissturz und Fallen der Papiere an der Effektenbörse begleiten diese schwere Erschütterung des überseeischen Marktes, vor der der Kapitalismus Englands bebt. Um die unverkäuflichen Warenlager zu verzinken, mußten die Handelsfirmen Bankkredit in äußerstem Maße in Anspruch nehmen. Dies führte zum Zusammenbruch überlasteter Häuser; so z. B. einer bedeutenden Pelzfirma, deren Passiva auf das 20–30fache ihres Kapitalnennwerts in die Höhe schnellten. 82 Konkurse im Gummihandel werden bis Mitte Dezember gemeldet! Ueberseeaufträge sind in großem Umfang zurückgezogen worden, wobei der Preissturz in Amerika und Japan ausschlaggebend war. Die Handelskammer in Birmingham kabelte erschreckt nach Indien, um die Gründe zu erfahren, weshalb die englischer Warren in Indien abbestellt würden, worauf aus Bengal die Antwort erfolgte: Markt verdorben durch Valutasturz, Abhilfe nur durch Einschränkung der Verschiffung. Mit andern Worten: Einschränkung der englischen Ausfuhr – ein schlechtes Auskunftsmittel im Augenblick der schlimmen inneren Lage des englischen Handels! War doch der Handel gerade nach Indien im letzten Vierteljahr auf 50 Millionen (gegen nur 17 Millionen desselben Zeitraums im Vorjahr) gestiegen. Ein englischer Wirtschaftspolitiker faßt diesen Zustand gegenüber einem Berichterstatter der „Frankfurter Zeitung“ in Worte zusammen: „Das Einzige, was uns im Grunde von Deutschland unterscheidet, ist: Sie haben die Pleite mit steigenden Preisen und wir haben sie mit fallenden.“
Kurz, aber sinnig! Soll nämlich heißen: Aufblähung des Papiergeldes hier wie dort.
Die „Times“ berechnen, daß das „siegreiche“ England „eine ärmere Nation“ geworden sei. Die „Produktivkraft“ sei um 20 Prozent gesunken (gegen 1913); dementsprechend betrage die wahre Steigerung der Geldlast des englischen Staates 250 Prozent. Lloyd George ließ in seinen letzten Reden daher auch durchblicken, daß Besserung im Grunde nur zu hoffen sei von drei Dingen: Sparen, Abrüsten, Politik des Friedens. Betrachtet man die Gütererzeugung in England, so springt zunächst die gesunde Aufwärtsentwicklung der Kohle in die Augen. Die Kohlenwirtschaft ist der feste Grund der englischen Wirtschaft überhaupt. Nach der Beilegung des Bergarbeiterstreiks im Oktober hält sich die Kohlenförderung auf 5,2 Millionen Tonnen in der Woche, d. h. die Friedensleitung ist nahezu erreicht. Dem entspricht die Jahresförderung: 1914 = 265 Millionen Tonnen; 1918 (tiefster Stand) = 227 Millionen; 1920 (geschätzt) = 260 Millionen Tonnen. Allein die Kohle macht es nicht. Infolge des Ausbleibens der nötigen Aufträge ist bereits im November eine Verminderung der Einfuhr von Rohstoffen nach England eingetreten (um 19 Prozent). Das bedeutet: Rückgang in der Gütererzeugung und seine Folge: Zunahme der Arbeitslosen.
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England muß versuchen seinen Außenhandel neu zu beleben. Dies ist die Erkenntnis die sich in den Kreisen der Unternehmer und Regierung aus der Untersuchung der Ursachen der Krise ergibt. „Es wird notwendig sein,“ schreibt ein Londoner Korrespondent der „Frankfurter Zeitung“, „daß sich die englische Wirtschaft wieder darauf besinnt, daß die internationale Arbeitsteilung der Vorkriegszeit etwas ganz natürlich Entstandenes war, und daß nicht einer alles machen kann. Diesem Gedanken stehen aber heute noch sehr fest verankerte nationalistische Hindernisse und die selbstverständlichen Interessen derjenigen im Wege, die ihr Kapital bis zum letzten Augenblick verteidigen.“
Die englische Regierung scheint inzwischen die Lage begriffen zu haben. Um den Außenhandel wieder zu beleben, verhandelt sie mit führenden Banken, Industriellen und Versicherungsfachleuten über einen großzügigen Kreditplan zu Hebung des Handels mit Mitteleuropa. Man sieht: die Amerikaner machen in England Schule! Auch in England dämmert die Einsicht, daß ein in Armut verkommendes europäisches Festland die kapitalistischen Blutsauger von Versailles selbst in Teufels Küche bringt. Hierin dürfen wir wenigstens eine schwache Hoffnung erblicken, daß das Schanddokument militaristischen Wahnsinns revidiert wird. Unsere Ansicht war von Anfang an: Der französische Kapitalist will den deutschen Hammel schlachten; der Engländer und der Amerikaner wollen ihn dagegen scheren und deshalb am Leben erhalten. Aus diesem Grunde hat sich Amerika längst aus der „affaire“ von Versailles gezogen; England folgt jetzt – langsam, aber notgedrungen – nach.
Quelle:
Das Volk vom 25.1.1921
In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00226548/Das_Volk_1921_01_0135.tif?logicalDiv=jportal_jpvolume_00194004
Bilder:
The Subsidised Mineowner - 1926 United Kingdom general strike - Wikipedia