Zwei Jahre nach dem Krieg und doch kein Frieden
Vor einem Jahr wurde der Völkerbund in Genf gegründet, aber von deutscher Seite wird die Organisation als scheinheilig empfunden. Deutschland wird der Beitritt prinzipiell verwehrt und der vorgebliche Geist der Völkerversöhnung könne kaum verdecken, dass die Organisation einseitig den britischen und französischen Interessen diene. Die Weimarische Landeszeitung hofft auf eine Neugründung des Völkerbundes unter der Schirmherrschaft der Amerikaner, da nur so die Geißel des Krieges besiegt werden könne.
Ein Jahr Völkerbund.
Am Jahrestag des Inkrafttretens des Völkerbundes sagte bekanntlich Lloyd George, es handle sich jetzt um den Beginn einer Bewegung, die auf eine internationale Rechtsordnung und auf einen dauernden Frieden hinziele; der Völkerbund werde einen entsprechend größeren Erfolg haben, wenn alle Nationen in ihm vertreten seien und wenn diese Nationen tatsächlich auf offenen und ehrlichen Verkehr untereinander Bedacht nähmen. In diesen Worten allein liegt ein deutlicher Wink nach Paris, sich endlich zur Einstellung auf die neue Ordnung der Dinge zu bequemen.
Eine völlige Neuordnung der Dinge bereitet sich allerdings unaufhaltsam vor. Soeben schied auch Amerika, das sich bis zur Entscheidung zurückgehalten hatte, als der Senat die Ratifizierung des Völkerbundvertrages verweigerte, auch formell aus, da Wilson endlich die entsprechende Forderung aus dem Wahlausgang vom 6. November zog. Ebenso erklärte die argentinische Regierung in Unterstreichung des von ihrem Gesandten in Genf getanen Schrittes ihren Austritt. Andere südamerikanische Staaten werden dasselbe tun. Es knistert und kracht im Völkerbund an allen Ecken und Enden. Man kann heute, nach einjähriger Dauer, mit gutem Gewissen voraussagen, daß der Völkerbund in seiner jetzigen Gestalt zusammenzustürzen wird, sobald der neue amerikanische Präsident Harding den ersten entscheidenden Schritt tut, etwas anderes an seine Stelle zu setzen. Dann wird vielleicht ein Gebilde entstehen, das den Aeußerungen Lloyd Georges besser entspricht. In diesen Rahmen wird sich dann auch Frankreich wohl oder übel einfügen müssen.
Vor der Verwirklichung dieser Hoffnungen aber werden noch Monate vergehen, und dazwischen stehen die Konferenzen von Paris und Brüssel. Unzweifelhaft werden die französischen Staatsmänner im letzten Augenblick doch ihre Anstrengungen vervielfachen, um so viel für sich herauszuschlagen wie möglich! Sie werden, wie es ja bereits kräftig im Gange ist, alle möglichen Beschuldigungen der Vertragsverletzungen gegen Deutschland erheben und unter diesen Vorwänden versuchen, weiteres deutsches Gebiet zu besetzen, „Garantien“ zu schaffen, und Deutschland den Lebensodem abzuschneiden. England wird, trotz seiner Erkenntnis von der Notwendigkeit, dem deutschen Volk die Lebenskraft zu erhalten, diese letzte goldene Gelegenheit ebenfalls verwerten, in Asien und sonstwo von Frankreich Zugeständnisse zu erpressen, deren Kosten Deutschland tragen muß! Es ist also kein Grund für dieses vorhanden, sich trügerischen Hoffnungen hinzugeben über das, was die nächste Zukunft bringen kann. Von Oberschlesien ganz abgesehen. Es ist auch eine beachtenswerte Tatsache, daß Marschall Foch selbst sich auf den Weg nach Amerika machen will, um dort die öffentliche Meinung für Frankreich zu beeinflussen. Freilich wird ihm das bei der Stimmung in den maßgebenden Kreisen der republikanischen Partei wenig nützen; denn man hat dort von französischem und anderem Militarismus reichlich genug! Aber es ist ebenfalls immerhin ein Symptom für die Mühe, die die Franzosen aufwenden, um noch zuguterletzt recht viel in ihre Scheuern zu bringen. Jedenfalls darf man heute, da der Völkerbund Wilsonschen Musters ein Jahr alt ist, ihm bereits das Grab schaufeln. Hoffentlich wird der Hardingsche Völkerbund besser!
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Ohne ihn [d.h. einen besseren Bund der Völker, Anm.] muß die Welt zugrunde gehen. Der Krebs des Hasses hat sich in unsere Eingeweide eingefressen: wird er nicht schleunigst entfernt, so sind wir verloren. Und dennoch können unsere Politiker und unsere Presse nichts anderes tun, als nach Haß schreien. Sie fordern unsere jungen Männer auf, sich auf neue Kriege vorzubereiten. Was fällt unseren Männern der Wissenschaft ein, daß sie mit friedlichem Studium die Zeit vergeuden? Mögen sie doch lieber noch tödlichere Gifte, neue Methoden der Zerstörung erfinden, von denen die ehrgeizigsten Träume des Todes selbst verblassen müssen. Die Herrschaft über das Land, das Meer, die Luft: sind sie denn nicht dem Menschen gegeben, auf daß er um so rascher die Rasse ausrotte? Von Europa allein wurden in dem Krieg, der heute noch kein Ende gefunden hat, zwanzig Millionen Leben geopfert. In dem Krieg, den wir vorbereiten, werden es, dies wissen wir alle, vierzig Millionen sein. Wir haben keine Furcht. Wir können uns leisten, noch vierzig Millionen unserer Söhne zu verlieren: so prahlten die alten Männer Europas und reiben sich die knochigen Hände. Haben die Götter, die uns vernichten willen, uns zuerst wahnsinnig gemacht? Haben uns unsere bösen Leidenschaften in verrückte Schweine verwandelt und treiben sie uns, gleich jener Schweineherde von Gabara, der Selbstzerstörung entgegen? Noch immer ist der Mann, der uns neuen Metzeleien entgegenführt, unser Idol – noch immer wird der Mann, der den Frieden verkündet, verachtet. Die blinden Führer der Blinden rufen: „Die Lava kühlt aus!“ – und drängen immer näher an den Rand des Kraters. So war einst die Lava ausgekühlt über dem Trümmerhaufen, der vormals Pompeji gewesen. So wird sie einst auskühlen über dem, was einmal Europa war. Und die unter der Asche begrabenen Völker werden endlich den Frieden haben.