100 Jahre Thüringen
Staatskanzlei Thüringen Weimarer Republik e.V. Forschungsstelle Weimarer Republik an der Uni-Jena

Bürgerlich wider Willen

Das Kabinett Fehrenbach tritt erstmals vor den neu gewählten Reichstag. Der neue Kanzler präsentiert das Regierungsprogramm und kommentiert auch die Koalitionsbildung eingehend. Sehr zu seinem Bedauern habe die MSPD nicht für eine Mitarbeit gewonnen werden können, sodass die neue Regierung wider Willen ein rein bürgerliches Minderheitskabinett sei. Auffällig ist tatsächlich die Stille von Seiten der MSPD-Fraktion, während Fehrenbachs Rede. Die USPD hingegen attackiert Fehrenbach scharf und die DNVP zeigt vereinzelt sogar ihre Zustimmung zu Fehrenbachs Programm des Ausgleichs. Genau dies zeigt aber das Dilemma der Sozialdemokraten, die zwischen diesen Extremen versuchen eine demokratische Opposition zu etablieren.

Constantin Fehrenbach (1852-1926)

Fehrenbach, Reichskanzler: Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Wahlen zum ersten Reichstag des neuen deutschen Volksstaates liegen hinter uns. Ihr Ergebnis spiegelt die Krisis wider, in der sich unser innerpolitisches Leben befindet. Über ihre Ursachen mich zu äußern, ist nicht meine Aufgabe. Für Reichstag und Reichsregierung handelt es sich vielmehr jetzt darum, trotz dieser Krisis das Reichsschiff weiter zu steuern, es über Wasser zu halten, es nicht Schiffbruch leiden zu lassen.

Der ernsten Verantwortung, die sie der Volksgesamtheit auf sich genommen hat, ist sich die neue Regierung vollauf bewußt.

Der Schwere der sie erwartenden Aufgaben entsprechen die außerordentlichen Schwierigkeiten, die bei ihrer Bildung überwunden werden mußten, Schwierigkeiten, die mit der Krisis im deutschen Parteileben unzertrennlich verknüpft und daher unvermeidlich waren. Wenn die Regierung trotzdem entschlossen an ihr Werk geht, so tut sie es in der Zuversicht, daß dieses hohe Haus, von dem gleichen Verantwortungsgefühl beseelt, ein durch gegenseitiges Vertrauen getragenes, ersprießliches Arbeiten ermöglichen und nach Kräften fördern wird.

Bevor ich die neue Regierungsliste zur Kenntnis des hohen Hauses bringe, fühle ich mich verpflichtet, der zurückgetretenen Regierung, namentlich ihren jetzt aus derselben scheidenden Mitgliedern und vorab meinem Herrn Amtsvorgänger, den herzlichsten Dank des Vaterlandes auszusprechen.

(Bravo! bei den Sozialdemokraten.)

Es hat ihrer Arbeit nicht an der Kritik gefehlt, die keiner Regierung erspart bleibt. Aber soviel ist gewiß: in schwerer Stunde haben sie verantwortungsvolle Ämter übernommen. Mit der ganzen Gewissenhaftigkeit pflichteifriger Männer haben sie die ungeheuer schwierigen Aufgaben zu lösen gesucht.

Die neue Regierung setzt sich wie folgt zusammen:

Reichskanzler Fehrenbach [Zentrum],

Reichsminister der Justiz und Stellvertreter des Reichskanzlers Dr. Heinze [DVP],

Reichsminister des Auswärtigen Dr. Simons [parteilos],

Reichsminister des Innern Koch [DDP],

Reichsminister der Finanzen Dr. Wirth [Zentrum],

Reichswehrminister Dr. Geßler [DDP],

Reichswirtschaftsminister Dr. Scholz [DVP],

Reichsarbeitsminister Dr. Brauns [Zentrum],

Reichsschatzminister v. Raumer [DVP],

Reichspostminister Giesberts [Zentrum],

Reichsverkehrsminister Groener [parteilos],

Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft Dr. Hermes [Zentrum].

 

[Es folgt das Regierungsprogramm, Anm.]

 

Und nun, meine sehr verehrten Damen und Herren, noch ein kurzes Schlußwort. Ich knüpfe dabei an die letzten Gedanken des Regierungsprogramms an. Wir sind eine sogenannte bürgerliche Regierung, aber nicht durch unseren Willen.

(Sehr richtig! bei den Deutschen Demokraten.)

Wir haben auch die sozialdemokratische Partei wiederholt und dringlichst um Mitarbeit in der Regierung gebeten. Ich hüte mich, den ablehnenden Bescheid einer kritischen Betrachtung zu unterziehen. Aber das glaube ich ohne Widerspruch feststellen zu dürfen: der freiwillige Verzicht auf die Mitarbeit in der Regierung legt der betreffenden Partei Verpflichtungen auf gegenüber einer Regierung, die nicht gegen die Arbeiterschaft, sondern, wie bisher, mit ihr und für sie regieren will, deren dringlichste Sorge dem werktätigen Volke gewidmet sein soll, werktätig im weitesten Sinne, aller körperlich und geistig Ringenden, den Arbeitern in der Landwirtschaft, im Handwerk, in der Fabrik, im Bergbau, den Arbeitenden auf allen Gebieten, auch des geistigen und künstlerischen Schaffens.

(Bravo! bei der Deutschen Volkspartei, im Zentrum und bei den Deutschen Demokraten.)

Wir wollen sein eine Regierung der Versöhnung, des Ausgleichs der Gegensätze, des Aufrufs an die ganze Nation zur tatkräftigen Mitarbeit an der Wiederaufrichtung des zusammengebrochenen Vaterlandes.

(Bravo! im Zentrum.)

Nötiger als eine starke Faust scheint uns jetzt jene ehrlich dargebotene Hand zu sein, in die alle Wohlmeinenden einschlagen können.

(Sehr gut! bei der Deutschen Volkspartei, im Zentrum und bei den Deutschen Demokraten.)

Es ist die Hand, welche die Schwielen unverdrossener Arbeit aufweist und sich nach einem langen Lebenswerk nur mit der Friedenspalme schmücken will. Keine Gefahr für irgendein Volk der Erde, aber die Hoffnung aller nach Stammesart, Sprache, Sitte und Lebensauffassung seit langem, ja zum Teil seit einem Jahrtausend mit uns Verbundenen, die ein Anrecht darauf haben, daß das schöne Wort vom Selbstbestimmungsrecht der Völker auch einmal Wahrheit werde.

(Lebhafter Beifall im Zentrum, bei den Deutschen Demokraten, bei der Deutschen Volkspartei und bei der Deutsch-nationalen Volkspartei.)

Und hat nur das Bewußtsein der Pflicht gegenüber Volk und Vaterland an diese Stelle geführt. Wenn irgendwo der bedeutende Mann mit gewichtigem Namen und anerkanntem Ansehen aus bewährter Vergangenheit gefunden wird, glauben Sie mir: es wird für mich keine glücklichere Stunde geben als die, da ich das mir anvertraute Amt in seine Hände legen kann.

(Zurufe von den Unabhängigen Sozialdemokraten.)

Gott ist mein Zeuge, ich stehe vor Ihnen als ein Opfer meiner Auffassung von vaterländischer Pflicht, und das gleiche gilt von meinen Herren Kollegen.

(Lebhafter Beifall im Zentrum, bei den Deutschen Demokraten und bei der Deutschen Volkspartei.)

An das deutsche Volk und seine Vertretung appellieren wir, daß sie sich bei ihren politischen Entschließungen von den gleichen Beweggründen leiten lassen. In einer Stunde der Not und folgenschwerster Entscheidung treten wir vor den Deutschen Reichstag. Gemeinsam wollen wir schaffen, Trennendes zurückstellen, uns zusammenfinden im Gedanken des Opfers für das große Ganze, auf daß Deutschland lebe!

(Lebhafter, anhaltender Beifall bei den Deutschen Demokraten, im Zentrum und bei der Deutschen Volkspartei.)

Quelle:

Verhandlungen des Reichstags, I. Wahlperiode 1920, 3. Sitzung, Montag der 28. Juni, in: https://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt2_w1_bsb00000028_00017.html

 

Bild:

https://de.wikipedia.org/wiki/Kabinett_Fehrenbach#/media/Datei:Bundesarchiv_Bild_183-2002-0507-500,_Dr._Constantin_Fehrenbach.jpg