Der Anarchistenfürst ist tot
Bereits am 8. Februar starb der geistige Kopf des Anarchismus – Fürst Pjotr Kropotkin in der Nähe von Moskau. Diese kritische Rückschau eines baltendeutschen Adligen befasst sich mit dem schwierigen Verhältnis zwischen den russischen Anarchisten und den vergleichsweise staatstragenden Kommunisten.
Die Anarchisten im bolschewistischen Rußland.
Von Carlo v. Kügelgen, Helsingfors.
Vor kurzem ist der greise Fürst Peter Kropotkin, wie es heißt, unter traurigsten Lebensverhältnissen in Moskau gestorben. Wie eine Erinnerung aus längst entschwundener Zeit tauchte dieser Ideologe des Anarchismus nach dem Niederbruch des zarischen Rußland 1917 in Petersburg auf, nachdem er 40 Jahre lang in der Verbannung geweilt hatte. In den Jahren 1917 und 1918 machten die Anarchisten in Rußland verhältnismäßig viel von sich reden. Bei allen Aufzügen und Demonstrationen war unbedingt auch die schwarze Fahne der Anarchisten zu sehen. Sie besetzten die schönsten Palais und waren schwer aus ihnen zu vertreiben. Es mußte in Petersburg und Moskau mit Waffengewalt geschehen, wobei sie erst nach blutigen Verlusten in Gefangenschaft gerieten.
Ich kann mich aus dem Sommer 1918 gut erinnern, daß von den Anarchisten vielfach in ähnlichem Tone gesprochen wurde, wie vor dem bolschewistischen Umschwung von den Bolschewiki geredet worden war. Die einen hielten sie für die Männer der Zukunft die anderen zweifelten daran, daß diese Partei ans Ruder kommen könne, die dritten meinten, es sei notwendig, daß Rußland durch die Tiefe des offiziellen Anarchismus hindurch müsse, um zu genesen. Die Anarchisten selbst traten mit großen Ansprüchen als die Machthaber des morgigen Tages auf. Ihre Zeitung „Burewjestnik“ (der Sturmbringer) erschien im Sommer 1918 im zweiten Jahrgange, wurde dann aber bald geschlossen. Wenn ich nicht irre, wurde das Hauptquartier der Anarchisten im Spätherbst 1918 mit Gewalt gestürmt. Die Bolschewiki hatten eingesehen, daß bei der damals praktisch herrschenden Anarchie, die sich auch theoretisch zum Anarchismus bekennende Partei als links von ihnen stehend, ihnen eine Gefahr bedeute. Je unvollständiger die Zustände im bolschewistischen Staate waren, desto leichter war es diesen Feinden eines jeden Staates, den bolschewistischen zu verspotten.
Die Grundforderungen der Anarchisten waren einfach und bequem genug, um ihnen einen großen Zulauf zu sichern, als die Bolschewiki die Zügel straffer anzuziehen begannen und mit der Forderung von Arbeitspflicht, Disziplin, Einhaltung der bolschewistischen Gesetze und anderer unerhörter Forderungen an das freiraubende und faulenzende Proletariat herantraten. Es gab eben damals in Rußland noch recht viel zu rauben und die Bolschewiki hatten schon eingesehen, daß man haushalten müsse. Ich erinnere mich eines Aufrufes im „Burewjestnik“, der sich an die Hausknechte wendete. Sie sollten sich schämen, „Wachthunde für fremdes Eigentum“ zu sein. Die Armen brauchten keinen Schutz, die Reichen aber vor den Armen zu schützen sei ein Verbrechen.
Wenn der Anarchismus nicht zur Macht gekommen ist, so liegt das an der besseren Organisation der Bolschewiki einerseits, und andererseits an dem volksfremden, doktrinären Geist der Anarchisten.
Ihr Blatt, das von zwei Brüdern Gardin herausgegeben wurde, war vielfach von einem pseudogelehrten, hochtrabenden Kauderwelsch angefüllt, gespickt mit Fremdworten, die dem einfachen Manne unverständlich sind. Die Bolschewiki verdammen die Religion, schätzen aber die Wissenschaft, soweit sie praktisch nutzbar ist. Die Anarchisten wiesen in unendlichen Artikeln nach, daß die Wissenschaft „noch schädlicher als die Religion“ sei. Deutschland werde nur durch seine Wissenschaftlichkeit von der kommunistischen Revolution ferngehalten! Im Grund sind die Anarchisten auch hierin konsequenter als die Konzessionen machenden Bolschewiki. Das Lächerliche bei den Brüdern Gardin war aber der gelehrte Apparat, mit dem sie „anarchistischen Individualismus“ mit wirklich konsequentem Kommunismus verbanden. Man höre folgende Auslassung des „Burewjestnik“ (März 1918). „Der echte, wahre Anarchismus ist der Pananarchismus, der Allanarchismus, der die Abschaffung aller Gewalt den Kommunismus, die freie Erziehung usw. umfaßt und in der Befreiung des Menschen von Religion und Wissenschaft gipfelt. Angesichts dieses Pananarchismus jetzt noch von dem verschrumpften, abgestandenen Stirner-Nietzscheanischen Anarchismus zu sprechen, ist Anachronismus und Zurückgebliebenheit.“ Wie man sieht, wimmelt es hier von „Ismen“. Die Sprache ist höchst geschraubt und im Volke schlechterdings unverständlich.
Während die Bolschewiki in ihren Gedichten gegen den „Borshut“ hetzen, oder schon für die Rote Armee und Arbeitsdisziplin Propaganda zu machen suchten, schwelgten die Anarchisten in den verstiegenen Höhen ihrer „Theorie“. Als Beispiel diene ein kleines Zitat aus der „Hymne an den Anarcho-Individualismus“:
„Für das Ich gibt es keine Hindernisse, keine Gesetze. Ich bin selber eisernes Gesetz. In der ganzen Welt ist allein mein Ich. Ich bin Gott. Ich bin das Gute und das Licht. Ich bin das Höchste und das Größte. Ich – der Gott-Mensch. Ich – die Wahrheit. Ich – die Schönheit. Ich – das Absolute.“
Diese hochtönenden Plattheiten bekommen dadurch noch ein besonderes Gepräge, daß die Hymne mit der Behauptung beginnt: „Ich bin ein Mensch. Darum bin ich – ein Tier, darum bin ich – ein Raubtier. Ich will ein Tier und ein Raubtier sei“ usw.
Die Bolschewiki aber sahen bald ein, daß ihnen in diesen „Bundesgenossen“ gefährliche Feinde heranwuchsen. Sie, die die Anarchie über Rußland gebracht, nahmen den Kamf gegen die anarchischen Zustände und zugleich auch gegen den theoretischen Anarchismus auf. Vielleicht wird er ihnen jetzt wieder neben den Aufständen der Sozialrevolutionäre zu schaffen machen.
Quelle:
Allgemeine Thüringische Landeszeitung vom 13.3.1921
Bilder:
Peter Kropotkin circa 1900 - Pjotr Alexejewitsch Kropotkin – Wikipedia