Gebt uns billige Milch!
Die Knappheit an Milchprodukten hat besonders für die Gesundheit von Kleinkindern schwere Folgen. Dementsprechend versuchen verschiedene soziale Interessenvertretungen Druck auf die Verantwortlichen auszuüben. Die entsprechende Prostversammlung im Jenaer Volkshaus verläuft jedoch eher mau, wie dieser Zeitungsartikel beklagt.
Protestversammlung im Volkshaus.
Gegen die Milchpreiserhöhung.
Zu einer großen Protestversammlung für Freitag abend im großen Volkshaussaale hatten der Hausfrauenrat, der Reichsbund der Kriegsbeschädigten, der Zentralverband der Invaliden und Witwen und der Erwerbslosenrat öffentlich alle Vereinsangehörigen, ferner aber auch alle Armen und Ausgebeuteten eingeladen. Demnach hätte erwartet werden können, daß die Veranstalter eine ansehnliche Zahl von Protestlern begrüßen würden. Diese Erwartung war aber irrig; selbst die Angehörigen der vier Vereine hatten der Einladung nur sehr spärlich Folge geleistet. Auch der große Kreis der Armen, der hierorts doch sicherlich vorhanden ist – das beweist allein die große Zahl der an den Amerikaspeisungen beteiligten Personen –, bekundete trotz der Wichtigkeit der Tagesordnung die übliche stumpfe Gleichgültigkeit. Der Versammlungsbeginn war auf ½ 8 Uhr festgesetzt worden: kaum 150 Personen zählte man um diese Zeit als Versammlungsbesucher. Zu diesem Grüppchen gesellten sich um die achte Stunde nur noch wenige Nachzügler; es war und blieb eine gähnende Leere in dem weiten Raum.
Nach langem, geduldigem Harren wurde endlich die Versammlung von Frau Weinreich eröffnet, die kurz auf die Ursache der Zusammenkunft hinwies und den kläglichen Besuch bedauerte. Als Referent trat Rentenempfänger Protz auf, der auf die angeblich unsinnige Produktionsweise in der Milchbewirtschaftung schon in der Vorkriegszeit hinwies und herfür den Kapitalismus verantwortlich machte. Eingehend verbreitete sich der Redner nunmehr über die Folgen der allgemeinen Unterernährung für die Säuglings- und Kinderwelt; die amtlichen Statistiken, die zur Kenntnis gebracht wurden, enthüllen ein entsetzliches Elend. Der arbeitenden Bevölkerung mit regelmäßigem Einkommen ist es kaum möglich, den Aufwand für die sogenannte „Kindermilch“ (Zuruf: Gibt es nicht mehr!) zu erschwingen, noch viel weniger die Familien der Erwerbslosen und Sozialrentner. Redner behauptet, daß der Nachweis erbracht werden könnte, daß genug Milch produziert würde, aber die wirklichen Bedürftigen haben das Nachsehen. Wer die Verhältnisse in der Landwirtschaft genau kenne, wisse, daß die Milch nur zu einem kleine Teile den amtlichen Ablieferungsstellen zugeführt würde, die größten Mengen werden gegen schweres Geld dem Schieber, den Kaffees, Gastwirtschaften und Schlemmer-Hotels überantwortet. Kein Landwirt begnüge sich mit der Milchmenge, die seiner Familie zugewiesen sei. Hunde und Katzen lebten auf dem Lande besser, als manche Arbeiterfamilie in der Stadt. Auch aus Aerztekreisen (Querfurt) mehren sich die Stimmen, die auf die schweren Bedenken einer abermaligen Milchpreiserhöhung hinweisen. Redner verlangt Zuführung der Milchproduktion direkt vom Erzeuger zum Verbraucher unter Kontrolle der Arbeiter-Konsumvereine, Wiedereinführung mindestens der früheren Milchpreise und schärfste Pflichterfüllung aller mit der Aufsicht betrauten amtlichen Organe. Als geeignete Kräfte, die Milchbewirtschaftung und Zuführung an die Verbraucher zu überwachen, bezeichnet Protz Beauftragte aus den Reihen der Erwerbslosen, die sich auf diese Weise sehr nutzbringend betätigen könnten. Das Wohl und Wehe der heranwachsenden Generation verlange dringend, daß nun endlich Wandel geschaffen würde. Das Verhalten von Staatsminister Frölich, der die Notwendigkeit der Milchpreiserhöhung unter Hinweis auf die gestiegenen Bierpreise verteidigt habe, wurde abfällig kritisiert. Redner schloß in der Hoffnung, daß das Ergebnis der heutigen Versammlung zur Beseitigung der unhaltbaren Zustände beitragen möchte.
[…]
Nach schier endloser, ermüdender Debatte kam es endlich zur Abstimmung über eine Entschließung, die 1. Abordnung einer Kommission an die Landesregierung und die Gemeindevertretung fordert, um gegen die Milchpreiserhöhung Einspruch zu erheben und Wiedereinführung mindestens des früheren Milchpreises zu verlangen, 2. von der Stadtgemeinde für die minderbemittelte Bevölkerung je nach dem Familieneinkommen und der Kinderzahl staffelmäßige Milchzuschüsse von 200–350 M. für den Monat verlangt. Ein nicht unerheblicher Teil der Hörer enthielt sich bezeichnenderweise der Abstimmung.
Woher die Mittel zur Bestreitung dieser Milchzuschüsse genommen werden sollen, sagte der Referent Protz in seinem Schlußwort: von den Reichen, die sich während und nach dem Kriege große Vermögen auf Kosten der Allgemeinheit erwarben. Die Kommission, bestehend aus Vertretern der Vereine, die die Versammlung einberiefen, soll gemeinsam mit gleichartigen Beauftragten anderer Stadtgemeinden und gewerkschaftlichen Verbänden die erforderlichen Schritte an zuständiger Stelle unternehmen.
Erst nach 11 Uhr erreichte die Versammlung ihr Ende.
Quelle:
Jenaer Volksblatt vom 19.3.1921
In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00273845/JVB_19210319_066_167758667_B2_002.tif?logicalDiv=jportal_jpvolume_00371288