Gerechte und ungerechte Demokratie
Vor dem Kontext der militanten Auseinandersetzung mit den Kommunisten vertritt der Publizist Eberhard Zschimmer die Idee einer sozialistischen und christlichen Demokratie, die sich aus der Suche nach Gerechtigkeit herleite. Er betont hierbei den Unterschied der modernen Demokratie zur „Demokratie“ der Antike, die nur dem Namen mit der jetzigen Staatsform gemeinsam habe.
Der positive Sinn der Demokratie
Von
Dr. Eberhard Zschimmer, Jena
Negativ ausgedrückt bedeutet Demokratie: Die Beseitigung aller ungerechten Vorrechte innerhalb der zur Kulturgemeinschaft organisierten Menschheit. Man muß zuerst wissen, was Gerechtigkeit im wahren Sinne ist, um zu urteilen, was ungerecht ist.
Gerechtigkeit ist die Idee einer Rechtsordnung, die erstens: jedem Menschen verbürgt, seine Fähigkeiten und Kräfte zum Aufbau der menschlichen Wirtschaft und Kultur so weit frei zu entfalten, als seine eigene Freiheit mit der Freiheit aller anderen, die dasselbe können und wollen, verträglich ist (Kant); und zweitens: jedem Werktätigen den Anteil an den erzeugten Gütern der Wirtschaft und Kultur sichern, den er durch seine Leistung im Verhältnis ihres Wertes verdient („Jedem das Seine“). Das Ideal der Gerechtigkeit wird für die Menschheit niemals vollkommen erreichbar sein. Erreichbar, und zwar mit immer zunehmender Vollkommenheit wird es aber sein, Grenzwerte zu bestimmen, von denen die größte Zahl aller aufgeklärten Menschen übereinstimmend die Ueberzeugung hat, daß der Lohn einer gewissen Leistung nicht unter einen ihr zugebilligten Grenzwert des Lohnes sinken darf, und eine andere Leistung im Dienst der Wirtschaft und Kultur nicht über einen dafür angemessenen Grenzwert durch Anteil an den Gütern der Gesellschaft hinaus belohnt werden darf – wenn offenbares Unrecht vermieden werden soll. Ebensowenig wie das Ideal der gerechten Entlohnung wie das Ideal der gerechten Entlohnung wird auch der ideale Zustand jemals Wirklichkeit werden, der jedem Menschen die freie Entfaltung seiner Wirtschafts- und Kulturkräfte soweit verbürgt, als es bei der gleichen Freiheit aller mit gleichen Fähigkeiten und gleich gutem Willen möglich sein würde. Dieses Ideal wird viel schwerer zu erreichen sein, als das Ideal des gerechten Lohns. Trotzdem muß man nach menschlichem Ermessen glauben, daß auch für dieses schwierigste aller Probleme: jeden nach seinen Fähigkeiten an den rechten Platz in der Gesellschaft zu stellen, allmählich eine immer vollkommenere Lösung gefunden wird. Man wird sich, durch Erfahrung belehrt, auch über die Fähigkeiten der Menschen zum Aufbau der Wirtschaft und Kultur so weit einigen, daß eine untere und eine obere Grenze der Befähigung je nach Art und Sinn des Berufs, den der Mensch in der Gesellschaft ausfüllen soll, als notwendig betrachtet wird, so daß die Mißachtung der Befähigungsgrenzen als Ungerechtigkeit empfunden würde.
Dementsprechend verhält es sich mit dem Urteil über die ungerechten Vorrechte, deren Beseitigung die Demokratie fordert, wenn man ihren Begriff zunächst negativ, d. h. als Verneinung der überlieferten, auf niederer Stufe der Ethik stehenden Organisationsformen der Gesellschaft bestimmt. Jene Grenzen für das Ideal der Gerechtigkeit sind es, nach denen über die Ungerechtigkeit von überlieferten „Rechten“ geurteilt werden kann, die einzelne Personen oder Klassen der Gesellschaft als Vorrechte vor andern genießen. Das Ziel der Beseitigung der ungerechten Vorrechte wird in dem Maß erreichbar und immer vollkommener erreichbar sein, als es gelingt, der Mehrheit der Gesellschaft und ihrem Gerechtigkeitempfinden die Grenze der Ungerechtigkeit immer deutlicher zum Bewußtsein zu bringen.
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Nächst dem Vorrecht auf politische Macht dürfte das Vorrecht auf Bildung und Beruf in der Wirtschafts- und Kulturwelt der vorwärts drängenden Idee der Demokratie an absehbarer Zeit weichen. Gerechtigkeit bedeutet hier: Befreiung der Begabten durch Beschränkung der Vorrechte der Unbegabten. Die Verneinung solcher veralteter Vorrechte bedeutet demnach Demokratie der Bildung und Berufe. Ihr folgt wahrscheinlich in weiter Ferne die Verneinung der Ordnung des wirtschaftlichen Unrechts, d. h. die Beseitigung des Vorrechts an wirtschaftlichem Besitz und kapitalistischen Herrenrechte zur Ausbeutung der Lohnarbeiter auf Grund von Machtvorrechten der Geldbesitzer über die Wirtschaftsmittel der Gesellschaft.
Dieser letzte Schritt zur Vollendung der Demokratie – die „Sozialdemokratie“ – wird schwerer sein als alle übrigen Kämpfe zusammengenommen, die von Menschen und Führern der Menschheit um das Ideal der Gerechtigkeit gekämpft worden sind. Er greift an die Wurzeln des Daseins der gesamten Kultur: an die „reale Basis“, wie Marx gesagt hat, auf der sich der Bau der Kultur der Gesellschaft erhebt. Er ist also lebensgefährlich für die bestehende Gesellschaft. Daher die ungeheuren Widerstände auch bei den unterdrückten Volksschichten selbst, die sich für die Beseitigung der kapitalistischen Herrenrechte einsetzen müßten; man versteht, warum die Führer des englischen Gildensozialismus sagen: „Nicht Armut, sondern Sklaventum ist die Säule, auf welcher der Kapitalismus ruht“ (Cole und Mellor). Gerade dieses englische Urteil bildet den Schlüssel zum Verständnis der Idee der Demokratie im positiven Sinne überhaupt.
Betrachtet man die drei wichtigsten Lebensfunktionen der modernen Gesellschaft – die Organisation der politischen Macht, die Organisierung der wirtschaftlichen Macht über die Naturschätze und der Macht der Erziehung über den Menschen – so erkennt man als positives Ziel der modernen Demokratie: Die Idee der Freiheit jedes einzelnen innerhalb der Grenzen der Vernunft. Oder, wenn man den positiven Gehalt der Idee stärker ausdrücken will: „Demokratie ist Freiheit jedes einzelnen im Dienst der Vernunft als oberstem Gesetzgeber aller“. Dies ist der Sinn der modernen, christlichen Demokratie im Gegensatz zur Demokratie des heidnischen Altertums.
Die bedauerliche Verwechslung des antiken Begriffs der Demokratie mit der modernen Idee ist wahrscheinlich die Ursache ihrer Bekämpfung durch das intelligente, monarchisch gesinnte Bürgertum. Tatsächlich führt die im deutschen Sozialismus zu Ende gedachte Idee der Demokratie des modernen Europa zurück auf Robert Browne, der die Freiheit der Kirche forderte, indem er sagte: Die wahren Christen vereinigen sich zu Gemeinden von Gläubigen, welche durch freiwilligen Vertrag mit Gott sich unter die Herrschaft Gottes und des Heilands gestellt haben, die das göttliche Gesetz in einer heiligen Gemeinschaft behüten. (1582.) Gott und Heiland bedeuten aber nichts anders als das Gesetz der Vernunft oder des Geistes, in dessen Dienst sich die freien Menschen der Gesellschaft stellen sollen. Daß nun die Menschen ihr ererbtes Sklaventum ablegen und zu „Freien“ im wahren Sinne werden – nichts anderes haben die Führer und Kämpfer für die Demokratie, gerade im jetzigen Augenblick, der Weltgeschichte im Sinn. Ein moderner Mensch kann gar nicht mehr anders denken; wenn er’s nicht tut, so ist daran vor allem die falsche, mit längst verstaubten Begriffen arbeitende klassisch-antike Erziehung der Gebildeten schuld. Sie scheuen die Demokratie der Griechen und Römer, die allerdings nichts von dem Ideengehalt des Christentums im demokratischen Sozialismus enthält, den Marx und Engels mit den unableugbaren Schlußsätzen des „Kommunistischen Manifests“ besiegelten: „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden (!!) die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ Faßt man die „freie Entwicklung aller“ so, wie es Hegels Schüler Marx versteht, als die Kulturpotenz, den Aufstieg der im demokratischen Staat organisierten Gesellschaft, so ist klar, daß Demokratie und Sozialismus die „freie Entwicklung eines jeden“ im Dienste der Vernunft bedeuten. Dieses ist der gesuchte positive Sinn der modernen Demokratie.
Quelle:
Das Volk vom 29.3.1921
In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00226548/Das_Volk_1921_03_0519.tif?logicalDiv=jportal_jpvolume_00192205
Bild:
Sitzungssaal des Abgeordnetenhauses, Parlament, Wien - Parlamentsgebäude (Wien) – Wikipedia