100 Jahre Thüringen
Staatskanzlei Thüringen Weimarer Republik e.V. Forschungsstelle Weimarer Republik an der Uni-Jena

Kronstädter Aufstand vor der Niederschlagung

Die Rote Armee erstürmt in diesen Tagen die Festung von Kronstadt und beendet damit die dort ausgebrochene Gegenrevolution. Der soziale Unmut hinter dem Aufstand ist damit aber nicht verschwunden, wie auch die Sowjetregierung erkennen muss.

Keine russische Gegen- sondern Neu-Revolution.

Von einem Kenner der russischen Verhältnisse wird uns geschrieben:

Noch bei Eröffnung des Kommunistenkongresses in Moskau am 8. März hat Lenin ruhmredig verkündet, daß „der Aufstand von Kronstadt in den nächsten Tagen zu Ende sein würde.“ Jetzt aber hat er bekannt, daß „der allgemeine wirtschaftliche Zusammenbruch die Sowjetregierung an der Durchführung der kommunistischen Ideen verhindert“ habe, und daß „Rußland ohne die Hilfe Europas nicht wieder hergestellt werden könne.“ Das ist für den Sowjetgewaltigen, der den Bolschewismus als Erlösung predigte, der von Rußland aus die ganze Welt erneuern wollte, ein peinliches Zugeständnis. Das bedeutet das Ende vom Traum der Dritten Internationale und müßte unsere Kommunisten, wenn sie überhaupt noch zu denken imstande sind, eigentlich in einem ungeheuren Katzenjammer versetzen. In der Presse der Unabhängigen kommt diese Ernüchterung auch bereits deutlich zum Ausdruck. Denn trotz aller Moskauer Funksprüche geht es mit der Sowjetherrlichkeit unverkennbar abwärts. Würde es sich wirklich nur um eine von Kronstadt aus geführte Gegenrevolution handeln, die von den Sowjetmachern mit bewußter Entstellung als „weißgardistisch“ ausgegeben wird, dann freilich brauchten die Lenin und Trotzki um den Ausgang nicht bange zu sein. Vielleicht hätten sie sich sogar der stark umsichgreifenden Bauernbewegung erwehren können, die ihren Sitz hauptsächlich in den östlichen russischen Gouvernements und auch in der Ukraine hat, und an deren Spitze ein bisher unbekannter Mann namens Antonow steht. Diese Bewegung richtet sich gegen den Sowjetkommunismus, den die Bauern besonders in der Form der Beitreibungen [d. h. Zwangsvollstreckungen, Anm.] verspüren. Aber ihre Stoßkraft leidet an dem durch die weiten Entfernungen im Russenlande bedingten Mangel an Zusammenhang. Weit gefährlicher jedoch als der Kronstädter Matrosenaufstand und die sowjetfeindliche Bauernbewegung ist die Erhebung der Petersburger und auch der Moskauer Arbeiter gegen das unfruchtbare, Werte vernichtende, aber nicht erzeugende Bolschewistenregime, das ihnen den Himmel auf Erden verheißen, aber den Hunger gebracht hat. Wenn die Kronstädter Matrosen die Abdankung der bolschewistischen Regierung fordern, so wird das erst dadurch bedeutsam, daß auch die Arbeiter von Petersburg und Moskau als Losung die Einberufung der Volksvertretung und die Wiederherstellung der politischen Freiheit ausgeben, daß sie bei ihren Umzügen Fahnen mit der Inschrift führen: „Nieder mit der Kommissareherrschaft!“ Denn man darf nicht vergessen, daß in Rußland nur die Form der Despotie gewechselt hat. Ja, dem Zaren stand immerhin eine wenn auch einflußlose Duma zur Seite, während das Sowjetregiment keinerlei Volksvertretung kennt, sondern eine reine Rätediktatur darstellt, wie sie ja die deutschen Bolschewisten anstreben. Weshalb es gut ist, daß der deutsche Arbeiter jetzt durch das russische Kino über diese Endziele aufgeklärt wird.

Quelle:

Der Deutsche vom 17.3.1921

In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00247701/SDH_19376538_1921_Der_Deutsche_0275.tif

 

Bilder:

Kronstadt attack - Kronstädter Matrosenaufstand – Wikipedia

Map of St. Petersburg (Einseitige Farbkarte) - Kronstädter Matrosenaufstand – Wikipedia