Bürger der Demokratie
In diesem Artikel legt der in Jena als Privatgelehrte tätige Max Hermann Baege seine Gedanken über eine demokratiekonforme Erziehungsweise dar. Der Sozialist ist im Bund Entschiedener Schulreformer tätig und wird sich in Nürnberg als Leiter der dortigen Volkshochschule niederlassen.
Erziehung zur Demokratie und zum Gemeinsinn
Von
Dr. M. H. Baege
Die Idee des sozialen Volksstaates setzt unbedingt voraus, daß seine Bürger gewillt und befähigt sind zur Selbstbestimmung, Selbstverwaltung und Selbsterziehung, sowie zu sozialem Denken und Handeln. Es ist deshalb eine der pädagogischen Hauptaufgaben, die Jugend schon zum rechten Gebrauch der Freiheit und zu werktätigem Gemeinsinn zu erziehen.
Wie im Staate, so herrschte auch in der Schule bisher das Bevormundungs- und Beaufsichtigungssystem. Sie unterdrückten meist den gesunden Drang zur Freiheit, statt ihn frühzeitig zu benutzen und in die richtigen Bahnen zu lenken. Das alte absolutistische Erziehungsideal ständiger Bevormundung muß nun fallen und dem demokratischen Erziehungsideal freier Selbstbestimmung Platz machen, denn die Maßnahmen der bisherigen Schulzucht entsprechen nicht mehr den Aufgaben unserer Zeit. Damit ergeben sich neue Aufgaben für die Gestaltung der Schulzucht. Das neue Erziehungsideal der freien, selbstverantwortlichen Persönlichkeit verlangt, daß an Stelle des selbstherrlichen Zwangs, der absolutistischen Befehlsmethode die Erziehung zur Selbstdisziplin und zur freiwilligen Einordnung in die Gemeinschaft tritt.
Die erzieherische Aufgabe, die der Lehrer in der Schule bisher zu leisten hatte, war in der Hauptsache eigentlich ein toter Polizeidienst. Das alte, auf unbedingter Autorität aufgebaute Schulsystem zwang den Lehrer in die unwürdige Rolle eines Aufpassers, ja Büttels. Seine Autorität war meist auf äußere Macht basiert. Der barsche Kommandoton des Kasernenhofes erscholl deshalb auch vielfach im Schulhause. Der Lehrer hatte den Schülern gegenüber immer recht. Er war unfehlbar, unbedingter Herr seiner Klasse, der von Schülerfragen nicht unterbrochen werden durfte und den Schülermeinungen nichts angingen. Wehe dem Schüler, der sich erlaubte, eine eigene Meinung zu haben oder gar der des Lehrers entgegenzutreten! Das alte militaristische Ideal des Kadavergehorsams war auch das der Schule. Die sogenannten stillen und gehorsamen Kinder, in Wirklichkeit oft die unpersönlichen und farblosesten, galten als die Besten. So wurden schon in der Schule die Wertbegriffe verzerrt. Was wunder, daß der Lehrer deshalb von der Jugend als der gefürchtete Vorgesetzte, ja vielfach gerade als der Feind empfunden wurde, gegen den alle Listen und Schliche im Kleinkriege der Schule galten. Dadurch entstand eine Atmosphäre stärksten gegenseitigen Mißtrauens und innerer Verlogenheit, ja hier und da erbittertster Feindschaft, die natürlich eine wahrhafte und furchtbare Erziehungsarbeit von vornherein unmöglich machte.
Die Grundlage aller wahren Erziehung bildet aber gerade das gegenseitige Vertrauen. Nur der Lehrer wird auf die Jugend einen wirklich erzieherischen Einfluß ausüben können, der das Vertrauen der Jugend genießt. Dieses Vertrauen kann er sich aber nur dadurch erringen, daß er seinen Zöglingen nicht als Vorgesetzter, als der Herrscher in der Klasse, sondern als der rechte Helfer und verständnisvolle Berater entgegentritt. Und dazu ist vor allem notwendig, daß er sich ständig und sichtbarlich bemüht, die Jugend in ihrer Eigenart zu verstehen. Einem rechthaberischen, unfehlbaren oder unnahbaren Lehrer wird das natürlich nie gelingen. „Vertrauen erweckt wieder Vertrauen und Liebe erzeugt Gegenliebe!“ Dieses alte Sprichwort gilt vor allem auch für die erzieherische Betätigung. Erziehen heißt, die Eigenart des Zöglings zu seinem und der Gemeinschaft Wohle entfalten helfen, das kann aber nicht geschehen durch herrisches Bevormunden und mißtrauisches Beaufsichtigen und Herumschnüffeln, durch kleinliches Nörgeln und Tadeln oder ständiges Moralpredigen, sondern nur durch liebevolles Eingehen auf die Eigenart des Zöglings und durch Vertrauen auf das Gute in ihm.
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Das Leben in der Schulgemeinde ist sogleich die fruchtbarste und lebendigste Form volksbürgerlicher Erziehung; denn nur was den ganzen Menschen packt, wirkt nachhaltig auf sein Verhalten, nicht aber eine ganz einseitig intellektuelle Belehrung, wie sie im sogenannten ethischen oder staatsbürgerlichen Schulunterricht versucht worden ist. Es ist ferner auch in der Hinsicht ein außerordentliches Erziehungsmittel, daß es die Entstehung jenes von der alten Schule geradezu systematisch gezüchteten, völlig unpolitischen Typs des Intellektuellen verhindern wird, der sich vom öffentlichen Leben glaubte zurückhalten und lediglich seinen persönlichen Anlagen und Neigungen widmen zu dürfen und der dadurch zweifellos die Entgeistigung der Politik und unseres ganzen öffentlichen Lebens stark mitverschuldet hat.
Quelle:
Das Volk vom 3.5.1921
In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00226548/Das_Volk_1921_05_0747.tif?logicalDiv=jportal_jpvolume_00192615
Bild:
Nürnberg, Gewerbemuseumsplatz 2-20160304-002 - Bildungszentrum Nürnberg – Wikipedia