100 Jahre Thüringen
Staatskanzlei Thüringen Weimarer Republik e.V. Forschungsstelle Weimarer Republik an der Uni-Jena

Der Markt soll es richten

Das Problem der Wohnungsnot betrifft vor allem die Großstädte, wo ein grundsätzlicher Mangel Wohnraum besteht. Eine Antwort wäre der soziale Wohnungsbau, der aber im bürgerlichen Parteispektrum wenig populär ist, wie dieser marktorientierte Artikel im linksliberalen Jenaer Volksblatt zeigt.

Sozialbau in Moskau

Baumarkt und Wohnungsnot

Eines der wichtigsten wirtschaftlichen Gebiete, die einer dringenden Reform bedürfen, ist unser Baumarkt. In Friedenszeiten beschäftigte er ungefähr 30 Prozent aller Erwerbstätigen. Heute liegt er völlig darnieder und die große Arbeitslosigkeit ist in erster Linie herauf zurückzuführen. Daß trotz der ungeheuren Wohnungsnot der Baumarkt sich nicht belebt, liegt lediglich an dem Mißverhältnis zwischen Gestehungskosten der Neubauten und den relativ niedrigen Mieten. Die Mieten werden durch staatliche und städtische Behörden auf einem Stand zurückgehalten, der nicht nur jeden Neubau von vornherein zu einem Verlustgeschäfte macht, sondern der sogar Reparaturen an alten Häusern nicht zuläßt und auf diesem Wege zu einem Verfall des gesamten Wohnungswesens führen muß. Die Kosten der Neubauten haben sich heute um 1.700 Prozent, dagegen die Mieten nur um 35 Prozent, höchstens 50 Prozent, gegen den Friedenswert gesteigert, und es ist gar nicht abzusehen, wie aus diesem Mißverhältnis herauszukommen ist, wenn man nicht das Uebel an der Wurzel packt. Denn die Inanspruchnahme des städtischen Kredites für diesen Zweck hat heute schon zu einer solchen Ueberspannung desselben geführt, daß die Städte nicht mehr wissen, wie sie die Zinsen für ihre Neubauten aufbringen sollen. Nur die Rückkehr zu gesunden kaufmännischen Grundsätzen kann hier Rettung bringen. Auch hier muß es heißen: „Keine Ausgabe ohne Deckung!“ In Friedenszeiten mußte jeder Mieter sowohl, wie Hausbesitzer damit rechnen, daß er für seine Wohnung ein Sechstel bis ein Viertel seines Einkommens aufzuwenden hatte. Das war ein gesundes Verhältnis, – und nur durch Rückkehr zu diesem Verhältnis kann der Baumarkt wieder gesunden. Heute sind die Arbeitslöhne ungelernter Arbeiter um 1.200–1.500 Prozent gestiegen gegen die Löhne des Jahres 1913, die Löhne gelernter Arbeiter nicht in ganz so hohem Maße, die Gehälter der Beamten noch weniger und die der geistig höchststehenden Beamten vielleicht kaum um 2–300 Prozent gegenüber dem Friedensgehalte 1913. Will man einen einheitlichen Maßstab für die Ausgaben für Wohnungszwecke schaffen, so nimmt man daher am besten ein Sechstel der Differenz zwischen dem heutigen Einkommen und dem des Jahres 1913, und kann dann folgende Leitsätze zur Gesundung unseres Baumarktes aufstellen:

  1. Es ist nach wie vor Pflicht der einzelnen Gemeinden, durch Beschaffung von Wohnungen den bestehenden Wohnungsmangel so schnell als möglich abzustellen. Der Bau dieser Wohnungen muß Privatunternehmern übertragen und darf nicht in eigene Regie der Stadt ausgeführt werden. Die Wohnungen dürfen jedoch nur zu Mieten von solcher Höhe vermietet werden, daß durch sie das Baukapital zeitgemäß verzinst und amortisiert wird.
  2. Die Gemeinden haben zur Beschaffung der Mittel von allen Mietern eine Wohnungsabgabe zu erheben, die ohne Rücksicht auf die von dem Mieter bewohnte Wohnung ein Sechstel desjenigen Betrages darstellt, um das sich das Einkommen des Jahres 1920 über das Einkommen des Jahres 1913 erhebt.
  3. Die Höhe der Mieten selbst wird nach Art der Wohnungen von den Wohnungsämtern festgesetzt, und zwar gilt dies ebensowohl für die bis zum Jahre 1919 erbauten Privathäuser, wie die danach von der Stadt selbst erbauten Wohnungen. Nicht unter diese Bestimmung dagegen fallen diejenigen Mietswohnungen, die nach dem Jahre 1919 von Privaten erbaut sind, damit die freie Bautätigkeit einen Ansporn erhält und dann von selbst in dem Moment einsetzt, sobald durch diese vorgenommene gesetzliche Maßnahme der Baumarkt geordnet ist.

Diese Leitsätze bildeten den Gegenstand einer sehr angeregten Aussprache im demokratischen Verein Eisenberg und werden veröffentlich, damit auch die Allgemeinheit auf dieses wichtige Thema hingewiesen wird und zu dessen Klärung mit beitragen kann.

Quelle:

Jenaer Volksblatt vom 21.5.1921

In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00273895/JVB_19210521_116_167758667_Be_001.tif?logicalDiv=jportal_jpvolume_00371338

 

Bild:

Moscow, Gilyarovskogo 65 Aug 2009 02 - Kleinwohnungsfrage – Wikipedia