„Der Sozialdemokratie gehört die Zukunft!“
Die Konkurrenz zwischen einer demokratischen und einer diktatorischen Auslegung des Sozialismus nimmt Anfang der 1920er an Fahrt auf. Die Wahlerfolge der USPD und KPD zwingen die MSPD sich mit den Theorien der politischen Gegner auseinanderzusetzen und ihre Interpretation der Marx’schen Lehren zu vertreten.
Die soziale Demokratie
Von
Dr. Eberhard Zschimmer, Jena
Jeder überzeugte Demokrat ist im Herzen auch Sozialdemokrat. Denn die Idee der Sozialdemokratie ist die Vollendung des demokratischen Prinzips: „Freiheit jedes Einzelnen innerhalb der Grenzen der Vernunft!“ Erst mit der Verwirklichung dieser Forderung für alle Menschen, ohne Ausnahme, wird das Endziel der Demokratie – die Befreiung der Menschheit von der Gewaltherrschaft Einzelner zur Alleinherrschaft der Vernunft – erreicht. Wie aber sollte das möglich sein in einer Gesellschaftsordnung, deren Wirtschaftsleben auf Gewalt und Vergewaltigung, Vorrecht und Entrechtung, Herrentum und Sklaverei beruht?
Das Wirtschaftsleben der Menschen ist die Grundlage ihrer geistigen Lebensgemeinschaft und bestimmt diese ebenso naturnotwendig wie das Musikinstrument den Charakter der Musik bestimmt, die darauf gespielt wird. Die wirtschaftlichen Beziehungen von Mensch zu Mensch bestimmen ihre Rechtsgefühle und Vorstellungen von Gerechtigkeit; demnach Rechtsgesetze und Staatsformen. Obwohl die geistigen Werte, die Ideen der Wahrheit, Freiheit, Schönheit und Güte ewige, seit Urzeiten in der Gottesidee vorausgenommene Ziele des Lebens sind, lehrt uns die Geschichte, daß die Vorstellung dieser höchsten Lebenswerte im Bewußtsein der einzelnen Menschen dem Wandel der Zeiten unterworfen ist. Ihr „gesellschaftliches Sein“ bestimmt dieses Bewußtsein, sagt Marx. Damit ist gemeint, daß die Menschen im Durchschnitt nicht aus ihrer Haut heraus können, indem sie nach den Ideen streben – nur sehr wenige, der Masse als dumm und verrückt erscheinende Ausnahmemenschen erheben sich als geborene Idealisten über das Durchschnittsbewußtsein. Die große Masse folgt unbewußt dem von Marx erkannten psychologischen Grundgesetz der gesellschaftlichen Entwicklung: Wie die Wirtschaftsordnung, so die Menschen; so ihr Fühlen, Denken und Wollen.
Aus dieser Erkenntnis des theoretischen Sozialismus zieht die Sozialdemokratie den notwendigen Schluß auf die Möglichkeit der Demokratie als Gemeinschaftsform der Gesellschaft. Die „Gläubigen“, die sich „durch freiwilligen Vertrag mit Gott unter die Herrschaft Gottes“ (d. h. der Idee) gestellt haben – so lautet dieser notwendige Schluß – werden ihre „heilige Gemeinschaft“ in dieser Welt niemals verwirklichen, solange sie nicht die irdische Grundlage – den unerläßlichen Erdboden des Wirtschaftslebens – umwandeln helfen, indem sie die göttliche Idee der Demokratie eben an diesem irdisch-allzuirdischen „gesellschaftlichen Sein“ der Menschheit tatkräftig verwirklichen.
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Der Demokrat als wahrer Idealist (im Gegensatz zum ideologischen Schwärmer und demokratischen Sittenprediger) untersucht zuerst das Werkzeug, mit dem die Gesellschaft der irdisch veranlagten Menschen arbeiten muß, um sich empor zu arbeiten zu einer höheren Form der Gemeinschaft: Zur Ordnung der Gerechtigkeit, die das innere, positive Wesen der Demokratie ausmacht. Der Sozialdemokrat ist der Zeppelin der Demokratie, der die ideologischen Ikarusse zu überzeugen sucht, daß man der in kapitalistischer Gewinnsucht wurzelnden Gesellschaft niemals die Adlerflügel zur Sonne der Gerechtigkeit durch das Wachs des sittlichen Gewissens ankleben kann. Das allzu weiche Wachs des Gewissens schmilzt in dem Maße rasch und immer rascher, je mehr die Strahlen dieser Sonne den wirtschaftlichen Egoismus der Besitzenden und Bevorzugten brennen. Das sittliche Werkzeug der Sozialdemokratie ist daher eine neue, auf Vernunft und Gemeinsinn beruhende Wirtschaftsform, die allen denen, die im Schatten des Kapitals leben, ihre wirtschaftliche Freiheit im möglichen Maße wiedergibt und auf der andern Seite denen, die vom Glück und der für sie arbeitenden Organisation der kapitalistischen Wirtschaft begünstigt sind, soviel von ihrer Freiheit nimmt, als die Idee einer gerechten Ordnung des irdischen Mein und Dein gebietet.
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Die gemeinwirtschaftliche Form der Gütererzeugung reift im Schoß der sich selbst aufhebenden Privatwirtschaft heran. Zu dieser Reife, die das Gesetz der Dinge hervorbringt, ganz ohne, ja gegen die Absicht der Menschen, fehlt der natürlichen Frucht bloß der vernünftige Wille, um sie der menschlichen Gemeinschaft dienstbar zu machen. Das ist die Erkenntnis, die uns den Weg von der Idee der Demokratie zu ihrer Wirklichkeit zeigt. Wenn wir diesen Weg mit Vernunft beschreiten, so werden wir das Endziel ebenso gewiß erreichen, wie der kühne Luftschiffer das Märchen des Fliegens wirklich machte, weil er mit den Tatsachen der Natur rechnen konnte. Wir werden das Ziel der sozialen Demokratie und das heißt die wahre, vollkommene Demokratie erreichen, weil die neue Form der Gemeinwirtschaft das Bewußtsein der in dieser Form wirtschaftenden Menschen, gemäß dem psychologischen Massengesetz, naturnotwendig umbilden wird zu einem sozialeren Bewußtsein, einer neuen Vorstellung von Gerechtigkeit und Sittlichkeit. Diese neuen Menschen – weit überwiegend an Zahl – werden ihre neue Gesinnung auf die kommende Generation übertragen. Die Gesetzgebung des Staates wird sich nach dieser Gesinnung richten.
Je schneller nun die Umbildung der privatkapitalistischen in die gemeinwirtschaftliche Wirtschaftsreform erfolgt, um so schneller wird die Idee der Sozialdemokratie marschieren. Ist dieser – vorläufig von einzelnen Führern der Menschheit klar erkannte und gewollte – Zustand der neuen Gesellschaftsordnung einmal zur Uebermacht über das privatkapitalistische System gelangt, dann wird ihn auch die Masse der Durchschnittsmenschen für ebenso „natürlich“ halten, wie dieselben Menschen den heute noch herrschenden Zustand als etwas Unabänderliches und Notwendiges zu ihrem Erdenglück gewohnt sind. Der Sozialdemokratie gehört die Zukunft!
Quelle:
Das Volk vom 28.5.1921
In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00226548/Das_Volk_1921_05_0897.tif?logicalDiv=jportal_jpvolume_00194330