Deutsch am Rio de la Plata
Schon vor dem Ersten Weltkrieg ist Deutschland ein Auswanderungsland, wobei die englischsprachige Welt das häufigste Ziel ist. Direkt danach folgt Lateinamerika mit bedeutenden deutschsprachigen Gemeinden in Brasilien, Chile, Mexiko und Paraguay. Nach dem Ersten Weltkrieg wird Argentinien zu einem beliebteren Zielland.
Die deutsche Auswanderung und Argentinien.
Von Otto Schöler-Jena.
Argentinien, jenes reiche, zweitgrößte Land Südamerikas, nimmt heute die Stellung eines Welthandelsstaates ein. Durch seine feste Haltung während des Weltkrieges hat es sich seine politische Bewegungsfreiheit zu wahren gewußt. Sein gewaltiger wirtschaftlicher Aufschwung, der einen Vergleich mit dem der Vereinigten Staaten von Nordamerika zuläßt, gründet sich auf seine günstigen natürlichen Bedingungen und auf die europäische Einwanderung. Von 1857 bis zur Gegenwart hat das Land 4,7 Millionen Einwanderer aufgenommen. Die Volkszählung von 1914 ergab 7.835.000 Einwohner. Der Weiße ist in Argentinien Unternehmer und Arbeiter. Die Einwanderung hat dem Lande das Gepräge aufgedrückt, aus ihr hat sich das argentinische Volk entwickelt, und durch sie sind neue wirtschaftliche und soziale Bildungen entstanden.
Die Zahl der deutschen Einwanderer ist gering im Vergleich zu den eingewanderten Italienern und Spaniern. In dem Zeitraum von 1857 bis 1914 strömten dem Lande 2.284.000 Italiener, 1.473.000 Spanier und nur 62.000 Deutsche zu. Auch in den achtziger Jahren, in denen die deutsche Auswanderung besonders stark war, wandte sich nur eine verhältnismäßig kleine Zahl unserer Volksgenossen dem La-Plata zu. Die Ursachen dieser auffallenden Erscheinung liegen darin, daß die Mehrzahl der deutschen Auswanderer die Schritte in die Vereinigten Staaten lenkte, und daß die Kenntnis über Südamerika und vor allem über Argentinien äußerst gering war. Ueber die dortigen klimatischen Verhältnisse und die politischen Zustände waren die unglaublichsten Dinge verbreitet. Aber auch heute herrscht bei uns noch in breiten Schichten große Unklarheit über das bedeutendste Land Südamerikas. Daß seine Hauptstadt Buenos-Aires 2 Millionen Einwohner zählt, eines der schönsten Theater der Welt besitzt, 6 deutsche Schulen zählt, und daß Argentinien heute mehr Ackerbauprodukte und Gefrierfleisch als irgend ein anderes Land ausführt, sind Tatsachen, die den meisten Deutschen unbekannt sind. An Versuchen, die deutschen Auswanderer von den Vereinigten Staaten Nordamerikas abzulenken und nach Südamerika zu ziehen, hat es nicht gefehlt. Doch mißlangen sie. Meines Erachtens zum Schaden unserer Auswanderer und unseres Volkstums.
Argentinien eignet sich gerade wie kaum ein anderes Land für tüchtige deutsche Menschen. Sein ausgezeichnetes Klima und sein zum großen Teil außerordentlich fruchtbarer Boden bieten die besten Vorbedingungen für ein erfolgreiches Arbeiten. In der Hauptsache suchen Landwirte, Kaufleute, Handwerker und Techniker das Land auf, um sich dort niederzulassen. Die in Argentinien lebenden Deutschen nahmen eine geachtete Stellung ein und haben es zu Wohlstand und Selbstständigkeit zu bringen vermocht. Geschlossenen deutschen Kolonien wie etwa in Süd-Brasilien begegnet man in Argentinien nicht. In manchen Kolonien sind die Deutschen das vorherrschende Element. Der Weltkrieg mit seinen Wirkungen hat es verursacht, daß auch in Argentinien, trotz seiner glänzenden wirtschaftlichen Lage die Bedingungen für den deutschen Einwanderer schwieriger geworden sind. Ungeachtet dessen gibt es dort noch eine Fülle von Möglichkeiten, vorwärts zu kommen. Nur muß auch der in Argentinien Einwandernde festen Arbeitswillen, zähe Ausdauer, sittlichen Ernst und Kenntnisse der spanischen Sprache mitbringen. Wer diese Vorbedingungen erfüllt, darf getrost in jenes reiche Land auswandern. Wer allerdings glaubt, mit wenig Arbeitsleitung dort bald reich werden zu können, der betrügt sich. Das Deutschtum Argentiniens braucht Zuzug zu seiner Erstarkung und Befestigung. Aber es liegt in seinem Interesse, daß nur tüchtige, zielbewußte Menschen zuwandern, die zur Erhöhung der Achtung beitragen, die das deutsche Element vor dem Argentinier genießt.
Nachdem der Krieg für uns verloren ist, muß sich unser Interesse für Argentinien noch erhöhen, denn es kann uns mit einer Reihe von Rohstoffen versehen; wir können dort Absatzgebiete für unsere Industrieerzeugnisse schaffen, und es ist ein geeignetes Ziel für deutsche Auswanderung.
Quelle:
Allgemeine Thüringische Landeszeitung vom 17.5.1921