„Konservative Revolution“ im Taschenformat
Die jungkonservative Wochenschrift „Das Gewissen“ klagt, dass die Regierung nicht genug gegen „Schieber“ und andere echte oder vermeintliche Auswüchse der Zeit unternehme. Sollte dies weiterhin der Fall sein, so werde man zur „Selbsthilfe“ schreiten. Das Jenaer Volksblatt kritisiert diese Androhung von illegaler Selbstjustiz. „Das Gewissen“ ist trotz der kleinen Auflage im rechtsintellektuellen Milieu sehr einflussreich.
Nicht mehr in Ordnung
In der Berliner Wochenschrift „Gewissen“ ist schon mehrmals die Drohung ausgesprochen worden, daß der Ring, der sich an die Zeitschrift anschließt, gegen die Schieber vorgehen wird, wenn es die Regierung nicht tue. Nun wird bereits die Absicht angekündigt, einen neuen Bund zu gründen: Michael-Kohlhaas-Bund. Denn wie Kohlhaas aus verletztem Rechtsgefühl das Recht gebrochen hat, so werde dieser Bund zur Selbsthilfe greifen. Die letzte Nummer des „Gewissens“ sagt:
„Millionen leiden die schwerste leibliche Not, weil es an des Leibes Nahrung und Notdurft, Kleidung und Heizung, an allem eben mangelt. Millionen verzweifeln, weil sie ihre Kinder aus dem Mangel am Nötigen zugrunde gehen sehen. Und in den Schaufenstern der Delikateß- und Luxusgeschäfte liegen die verführerischen Genußmittel, die teuersten Stoffe, der raffinierteste Schmuck aus. In den Schlemmerlokalen, vor denen die Autos sich stauen, um die, bei denen das Geld keine Rolle spielt, nach vollgepampftem Bauch zu Nackttänzen oder anderen orientalischen Vergnügungen zu führen, sitzt ein widerliches Heer verfressener Menschen, denen die Fettwülste über den Kragen fast bis in die Hose hängen. Und nichts geschieht von Regierungsseite gegen dieses Treiben, das eine Erbitterung und einen Haß erzeugt, von denen sich die Schieber und ihre Schirmherren anscheinend keine vorstellung machen… Wenn die Regierung meint, die Schieber, d. h. die Menschen, die aus der deutschen Not ein Geschäft gemacht haben, nicht fassen zu können, so wende sie sich an unsere Auskunftei. Wir haben das Material, wer und wieviel er an unserer Not verdiente. Auch jede Razzia am rechten Platze würde genügend Menschen zusammenbringen, die ihre Schuld am deutschen Volke in Strafbattallionen bei der Urbarmachung von Mooren abbüßen könnten… Das ist die vorletzte Warnung an die Regierung: Schreitet ihr nicht rücksichtslos gegen diese ernstesten Feinde des deutschen Volkes ein, so tun wir’s.“
Das entspricht natürlich nicht der Ordnung. Aber man darf nicht vergessen, daß heute Berlin, Deutschland, Europa und die Welt überhaupt nicht in Ordnung sind, und unter solchen Umständen kann noch manches passieren. Grundsätzlich ist es ohne Zweifel nicht zu billigen, daß sich Privatleute Funktionen des Staates herausnehmen, aber man soll sich nicht wundern, wenn es dazu kommt, daß sie es tun.
Quelle:
Beilage zum Jenaer Volksblatt vom 8.5.1921
In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00273885/JVB_19210509_106_167758667_Be_001.tif?logicalDiv=jportal_jpvolume_00371328