NEPer, Schlepper, Bauernfänger
Die sozialdemokratische Presse kritisiert die sowjetische Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, die im März 1921 unter der Bezeichnung Neue Ökonomische Politik (russ. NEP) eingeführt wurde. Eine Revolution könne nicht von oben dekretiert werden, sondern sei das Ergebnis langfristig wirkender rechtlicher Reformen.
Der moralische Zusammenbruch in Rußland
Von
Dr. Herbert Kühn
„… Der große Fehler ist, daß sie sich die Revolution als ein über Nacht abzumachendes Ding vorstellen. In der Tat ist sie ein mehrjähriger Entwicklungsprozeß der Massen unter beschleunigten Umständen. Jede Revolution, die über Nacht abgemacht wird, beseitigt nur eine von vornherein hoffnungslose Reaktion (1830) oder führte unmittelbar zum Gegenteil des Erstrebten (1848 Frankreich).“
Fr. Engels an E. Bernstein 1883.
So sagte Engels im Jahre 1883. Man hat in Rußland nicht auf den alten Meister gehört; Lenin glaubte durch einige geschickte dialektische Wendungen, durch gewaltsames Zertrümmern des alten Staates den neuen Staat über Nacht aufbauen zu können. Was wir jetzt in Rußland erleben, ist eine der größten Tragödien der Weltgeschichte. Wir selbst sind in diesen Tagen mit unseren eigenen Sorgen, mit den furchtbaren Lasten, die uns der Imperialismus der Entente auferlegt, so erfüllt, daß wir kaum Sinn und Blick haben für das, was im Osten vorgeht. Und doch wäre es für uns alle wichtig, genau und aufmerksam das traurige Schauspiel zu verfolgen.
Wir erleben gerade in diesen Tagen nicht mehr und nicht weniger als den moralischen Zusammenbruch des Sowjetsystems. Auf dem Allrussischen Kongreß vom 29. April 1918 hatte Lenin noch erklärt: „Auf der Tagesordnung steht darum eine neue, höhere Form des Kampfes gegen die Bourgeoisie, der Uebergang von der einfachsten Aufgabe der weiteren Expropriierung der Kapitalisten zu der erheblich komplizierteren und schwereren Aufgabe der Schaffung von solchen Bedingungen, unter denen die Bourgeoisie weder existieren noch von neuem aufstehen könnte. Es ist klar, daß ohne die Lösung dieser Aufgabe der Kommunismus noch nicht vorhanden ist.“
Die Lösung dieser Aufgabe wurde in Rußland versucht – sie ist mißglückt. Sie mußte mißglücken, weil man Marx und Engels wohl im Munde führte, aber nicht nach ihnen handelte. Wie oft hat Marx von dem Wachsen der ökonomischen Bedingungen, von der Entwicklung gesprochen – man hat diese Worte übersehen – ein Doktrinarismus, ein starrer Dogmatismus hat die sozialistische Bewegung geschwächt und hat sein Unheil auch zu uns getragen.
In Rußland haben die Sowjet-Diktatoren die Kapitalisten erschlagen. Sie übergeben jetzt ihre Industrie ausländischen Kapitalisten. Deutsche Firmen kaufen große Ländereien, kaufen Wald, nehmen die alten Fabriken wieder in Besitz; englische, amerikanische Firmen tun das gleiche. In Rußland haben die Sowjet-Herren den freien Handel verboten. Kein Laden ist in Moskau, ist in den anderen Städten zu sehen – alles regelt der Staat; in diesen Tagen haben sie auch den Handel wieder einführen müssen und damit ist das Sowjetsystem, der diktatorische Kommunismus, in seinem innersten Wesen getroffen, damit hat er selbst seine Unfähigkeit, seinen Bankerott erklärt.
[…]
Man kann keinen Staat „dekretieren und einführen“, wenn die Wirtschaftsformen nicht den rechtlichen Bestimmungen entsprechen. Das Recht muß mit der Wirtschaft gleichen Schritt halten. Wenn es zurückbleibt hinter der Wirtschaft, entstehen Revolutionen, wenn es voraufgeht, wenn es gewaltsam vorgetrieben wird, wie in Rußland, entstehen Verzerrungen und schließlich ebenfalls der Zusammenbruch. Der Vorteil der Demokratie ist, daß sie niemals den Unterbau verliert, daß ihre Rechtsformen immer den ökonomischen Formen entsprechen müssen, weil sie die Mehrheit des Volkes durch ihre Vertreter beschlossen hat.
Die Demokratie allein schafft die wahrhafte Revolution, die stetige Veränderung, die immer in Zusammenhang mit dem Volke ist, sie allein schafft den Entwicklungsprozeß, der dauerhaft ist, weil er notwendig, organisch gewachsen und nicht über Nacht gemacht ist.
Diese Lehre gibt uns Rußland. Wenn sie die deutsche Arbeiterschaft versteht, wird sie den Weg zum Heile finden.
Quelle:
Das Volk vom 17.5.1921
In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00226548/Das_Volk_1921_05_0822.tif?logicalDiv=jportal_jpvolume_00192638