100 Jahre Thüringen
Staatskanzlei Thüringen Weimarer Republik e.V. Forschungsstelle Weimarer Republik an der Uni-Jena

Wie sollen wir das alles zahlen?

Das Londoner Ultimatum lässt Deutschland eine kurze Frist, um über die Annahme der einseitig beschlossenen Reparationsforderungen zu entscheiden. Bei Ablehnung wären die Konsequenzen gravierend. Der Gewerkschafter Anton Erkelenz (DDP) macht in diesem Artikel einige Rechenspiele über die Zahlungsmodalitäten.

Anton Erkelenz (1878-1945)

Die Schicksalsfrage.

Von Anton Erkelenz-Düsseldorf, M. d. R.

Die „Herren der Welt“, so diesmal in London tagten, haben uns noch einmal eine „Gnadenfrist“ gewährt. Wir sollen noch einmal Zeit haben zu überlegen, noch einmal Gelegenheit haben, ja oder nein zu sagen. Und dann endlich – oder erst – soll das Fallbeil herabsausen, d. h. das Ruhrgebiet besetzt und vielleicht die Seehäfen blockiert werden. Es ist ja so menschlich von den großen Herren, so gnädig mit uns armen Kreaturen zu sein. Leider haben sie weiter keine Menschlichkeit und keinen Gerechtigkeitssinn bewiesen. Denn gleichzeitig mit ihrer gnädigen Herablassung, noch 6 Tage zu warten, haben sie den Gegenwartswert ihrer Forderungen von 50 Milliarden auf 132 Milliarden und haben die Zinsen, die nach dem Friedensvertrag bis 1926 nur 2 ½ Prozent betragen sollten, auf 5 Prozent erhöht. Neben einigen anderen Erschwerungen! Wir sollen eine feste Jahreszahlung von 2 Milliarden Goldmark leisten und dazu noch 25 v. H. des Wertes unserer Ausfuhr. Nach dem augenblicklichen Stande der Dinge gäbe das eine jährliche Zahlung von 3 ½ Milliarden Goldmark. Und wenn unsere Ausfuhr die Höhe der Vorkriegszeit erreichen würde, betrüge unsere jährliche Leistung 4 ½ Milliarden Goldmark. Bleiben wir bei der ersten Summe.

3 ½ Goldmilliarden sind zurzeit mehr als 52 Papiermilliarden. Wir haben etwa 20 Millionen Personen, die durch eine berufliche Arbeit ihren Lebensunterhalt erwerben. Jede dieser muß jährlich 175 Goldmark oder 2.625 Papiermark an die Gegner abführen. In der Annahme, daß jeder Erwerbstätige in Stadt und Land jährlich 2.400 Stunden arbeitet, ergeben sich 48 Milliarden Arbeitsstunden. Die an die Gegner zu leistende Abgabe beträgt also, wenn sie genau gleichmäßig verteilt würde, auf jede Arbeitsstunde 1,08 Papiermark. Rathenau rechnet sogar mit 2 Mark pro Arbeitsstunde, da er weniger Arbeitende annimmt und hauptsächlich nur mit den gewerblich Tätigen rechnet. Vielleicht ist unsere Rechnung tatsächlich zu günstig. Aber nehmen wir sie trotzdem als Grundlage. Zu beachten ist aber, daß die Papiermark keine zuverlässige Grundlage, kein Maßstab ist. Wenn unsere Valuta sich verschlechtert, steigert das selbsttätig die Höhe der Zahlung. Richtiger müßten wir die Stundenzahlung in Gold ausdrücken. Das würde heißen, daß von jeder Arbeitsstunde 9 Goldpfennige an die Gegner auszuzahlen sind, und das sind zurzeit 1,08 Papiermark und wären bei einem Valutastande, wie wir ihn Februar 1920 hatten, 2,16 Papiermark gewesen. Führen wir diese Rechnung weiter. Vor dem Kriege war der Durchschnittsverdienst pro Arbeitsstunde höchstens 40 Goldpfennige. Wenn wir die damaligen Lebensverhältnisse als erträglich voraussetzen, so müßten heute alle Ausgaben so stark herabgeschraubt werden, daß man von der Ersparnis die Zahlungen an die Gegner und die Kosten unserer eigenen Reichs-, Staats- und Gemeindemaschine decken könnte einschließlich Zinsen der Kriegsanleihe, Kriegsbeschädigtenrenten, Zuschüssen an Lebensmittelkosten usw. Diese Ausgaben betragen zurzeit etwa 16 Goldpfennige pro Stunde, so daß jeder Deutsche versuchen müßte, mit einem Stundenlohn von 15 Goldpfennigen auszukommen. Das würde heißen: wir müßten unsere Lebenshaltung etwa um drei Fünftel einschränken und müßten uns mit einem Stundenverdienst von etwa 2,25 M. Papiermark zufrieden geben. Jeder mag sich selbst ausrechnen, wie er mit 2,25 M. Stundenverdienst auskommen könnte.

[…]

Wie könnten wir die erforderlichen Summen aufbringen, ohne eine solche Einschränkung der Lebenshaltung? Der „Vorwärts“ fordert die Beseitigung resp. die einschneidende Beschränkung des Kapitalprofits. Um die Leistungen an die Entente und dazu die nötigen Mittel für Reich, Staat und Gemeinde zu schaffen, brauchten wir eine jährliche Steuereinnahme von etwa 10 Goldmilliarden oder 150 Papiermilliarden. Der Goldwert unserer ganzen Besitztümer: Land, Fabriken, Wohnhäuser, Maschinen beträgt heute höchstens noch 200 Milliarden. Zu einem Zinsfuß von 5 Prozent werfen sie jährlich 10 Milliarden ab. Der Betrag würde also gerade ausreichen. Es ist aber keine steuerliche Zwangsmaßnahme denkbar, die das Ergebnis erzielen könnte. Dazu gäbe es nur einen Weg, nämlich daß alle großen und kleinen Vermögensbesitzer freiwillig ihren Gewinn für 40 Jahre ablieferten. Natürlich ist diese Vorstellung phantastisch, denn sie würde mit einer übermenschlichen Opferwilligkeit rechnen. Die wahrscheinliche Folge eines Zwanges wäre, daß jeder Besitzer in seinem Arbeitseifer so völlig nachließe, daß Handel und Wandel, Landwirtschaft und Industrie stocken müßten. Man wird also bestenfalls ein Teil des Kapitalprofits wegsteuern, einziehen können, einen Teil, der kaum über zwei Goldmilliarden herausgehen wird.

Die andere Seite ruft: verlängert die Arbeitszeit, arbeitet statt 8 Stunden 10, statt 2.400 im Jahr 3.000 Stunden, statt 48 Milliarden Arbeitsstunden im Jahre in ganz Deutschland deren 60 Milliarden. Da jede vollgenutzte Arbeitsstunde einen Wert von 40 Goldpfennigen erzeugt, ergäbe das einen Betrag von 4 ½ Milliarden Goldmark. Auf dem Papier sieht das nicht schlecht aus, in der Praxis ist die Sache wesentlich anders. Es ist eben nicht wahr, daß man ganz allgemein in 10 Stunden mehr leistet als in 8. Das gilt höchstens für Betriebe, wie z. B. den Fahrdienst auf der Eisenbahn oder den Schiffen. In den meisten fabrikmäßigen Betrieben bringt eine Verlängerung der Arbeitszeit um 25 Prozent selten eine Steigerung der Leistung um 10 Prozent, oft wird sogar die Gesamtleistung vermindert. Dazu tritt ein anderes. Sowie es übermenschlich ist, von jedem Vermögensbesitzer zu verlangen, daß er 40 Jahre lang auf jeden Gewinn aus seinem Vermögen verzichtet, so ist es übermenschlich, von jedem Arbeitenden für 40 Jahre lang eine Steigerung seiner normalen Leistung um 25 Prozent zu erwarten. Auch hier muß man mit der Psyche des Menschen rechnen. Und auf einer gewissen Höhe der sozialen Entwicklung sinkt die Intensität der Arbeit mit der Dauer, oder auch mit der Einschränkung der Lebenshaltung.

Quelle:

Jenaer Volksblatt vom 10.5.1921

In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00273886/JVB_19210510_107_167758667_B1_001.tif

 

Bild:

Anton Erkelenz 1943 - Anton Erkelenz – Wikipedia