100 Jahre Thüringen
Staatskanzlei Thüringen Weimarer Republik e.V. Forschungsstelle Weimarer Republik an der Uni-Jena

Care-Pakete für Deutschland

Die Versorgungslage ist zwei Jahre nach Kriegsende immer noch prekär. Die extreme Rechte nutzt diesen Notstand für die Propaganda gegen die ehemaligen Kriegsgegner. Der Deutsche aus Sondershausen bringt einen Artikel des österreichischen Publizisten Hermann Kienzl über die hohe Kindersterblichkeit, die als Folge der „Hungerblockade“ dargestellt wird. Die im Artikel erwähnte Deutschamerikanerin Ray Beveridge war in Rechtskreisen u.a. bekannt für ihre Agitation gegen die „schwarze Schmach“ und schloß sich später der NS-Bewegung an.

Das Trauernde Elternpaar von Käthe Kollwitz

Kindernot und Kindertod.

Von Hermann Kienzl-Berlin.

Wer weiß von der Not in Deutschland? Nicht einmal alle Deutschen! Die Schichten der glückhaften Spekulanten, gewerbsmäßigen Groß-Schieber wollen nichts davon wissen, willen sich den gewissenlosen Genuß ihres Raubbaues nicht durch den Anblick des Jammers trüben lassen.

Und das Ausland? Allmählich drang Düsteres über die Grenzen des Landes, über die Meere. Berichte von Augenzeugen, von Männern und Frauen, die nach Deutschland gekommen waren, sich durch eigenen Augenschein von den Verhältnissen zu überzeugen, bestätigten das Schlimmste. Diese Fremden, die sich nicht bescheideten, in den immer noch luxuriösen großen Hotels den Wohlstand ganz weniger zu beobachten, sahen das einst blühende Deutschland wie es Krieg, Hungerblockade und der wirtschaftliche Druck der Friedensbedingungen zugerichtet haben. Sie sahen die deutschen Kinder, bleich, siech, frühem Tode verfallen. Auch andere Gäste fanden sich ein. Emissare eines vom Siege nicht gesättigten Völkerhasses, Werkzeuge eines von menschlicher Gesinnung nicht berührten Willens. Die Aufgabe dieser Fremdlinge war, das Mitleid, so sich in der weiten Welt zu regen begann, zu ersticken, damit der Kindertod ungehemmt die jungen Halme mähe und Deutschland mehr und mehr in seiner Volkskraft geschwächt werde. Ueber die Tätigkeit der Erbarmungslosen – es gaben sich nicht viele zu solchen Henkersdiensten her! – äußerte sich die Amerikanerin Ray Beveridge in der Einleitung ihres Berichtes über den „deutschen Kindertod“. Miss Ray Beveridge hat in Begleitung der amerikanischen Offiziere Oberst Eonley und Kaptain J. Altwood Whitaker vom amerikanischen Roten Kreuz und des englischen Parlamentariers Claude Hay die Schulen und Wohnungen der Kinder aufgesucht. Der Bericht faßte die Studien dieser freiwilligen Kommission in nüchternen Zahlen zusammen – in erschreckenden Zahlen!

„Meine Feder“, schrieb Ray Beveridge, „vermag nicht all das Entsetzliche zu Papier zu bringen, das ich zu Gesicht bekam, seitdem ich die Volksschulen und die Hospitäler besuchte. Meiner Meinung nach müßten Journalisten und Politiker, die von den Verbündeten hergesandt wurden, und die berichteten, daß die deutschen Kinder nicht am Verhungern seien, am Tage des jüngsten Gerichts als Massenmörder hilfloser Kinder angeklagt werden.“ Und an anderer Stelle, nachdem sie den Anblick der ausgemergelten, im Wachstum zurückgebliebenen, an Brust und Gliedern verkrümmten, rachitischen oder tuberkulosen Knaben und Mädchen geschildert hat, fährt sie fort: „Als ich vergangenen September von Koblenz nach Paris fuhr, traf ich einen Zeitungsphotographen, der mir erzählte, daß er sich damit beschäftigt, die dicksten Kinder, die er zu Gesicht bekommt, zu photographieren, um die Bilder einem bestimmten Newyorker Blatt einzusenden, damit das amerikanische Volk sich überzeugen könne, wie es mit dem „Verhungern“ der deutschen Kinder bestellt sei. Ohne auch nur eine Ahnung von der Größe seiner Verantwortlichkeit zu haben, trieb er mit der Menschlichkeit sein Spiel!“ – So geschrieben im November 1919. Und der Ruf der Menschlichkeit dieser trefflichen Frau ist nicht in tauber Welt verhallt! Menschenliebe ist erwacht. In den Vereinigten Staaten Amerikas, in der Schweiz, in Schweden, in Holland blüht eine großzügige Hilfstätigkeit. Tausenden und Tausenden armer deutscher Kinder wurde Rettung gebracht durch ihre Aufnahme und Verpflegung im neutralen Ausland und durch die Liebesgaben, die Millionenwerten beim deutschen Roten Kreuz in Berlin einfließen. Auch aus solchen fernen Ländern, die nie ein engeres Band an Deutschland knüpfte, kommt mancher treue Gruß. Wie rührend die Spende der kleinen Schulmädchen und der Frauen von Montevideo (Uruguay)! Die Fingerlein der Kinder taten ein so gutes Werk, sie strickten und nähten so tapfer, damit die armen deutschen Bübchen und Mädchen nicht mehr im Winter frieren sollten! Und Frauenherzen, überall die Zuflucht des Mitleids, warben um Beiträge.

Aber es muß gesagt werden: alle Hilfe, alle Opfer der Menschen- und Kinderfreunde wären doch vergeblich gewesen, wenn allzubald Ebbe käme, wenn die Flut des Mitleids nicht andauernd wüchse! Denn es weichen nicht die dunklen Schatten über dem Kindergarten Deutschlands. So vielen – Erwachsenen und Wachsenden – durch fremde Güte auch geholfen werden konnte, immer sind es, verglichen mit der Allgemeinheit, doch nur wenige, die gerettet werden konnten. Von der Allgemeinheit der deutschen Not – hier bestätigen Ausnahmen wirklich die Regel! – mögen heute einige statistische Ziffern sprechen: Aus dem Vergleich der Sterblichkeit in der Vorkriegszeit mit den frischen Gräbern der Jahre 1915-1918 geht hervor, daß in jenen vier Kriegsjahren in Deutschland 762.796 Zivilpersonen an den Folgen der Hungerblockade zugrunde gingen! Seither hat sich die Sterblichkeitsziffer noch beträchtlich erhöht. Die Milchwirtschaft Deutschlands ist seit dem Jahre 1913 von 27 Milliarden Liter Milch im Jahre auf – 8 Milliarden heruntergesunken. Von dem Minimum an Milch, daß das Reichsgesundheitsamt den Kindern und stillenden Müttern zusprach, kann nur ein geringerer Teil wirklich bezogen werden. In Essen sind es 22 Prozent, in Erfurt gar nur 10 Prozent des festgesetzten Notquantums. Das Reichsgesundheitsamt fordert für den Tag 8 Millionen Liter Milch (einst waren es 28 Millionen, und es kamen 42 Liter auf den Kopf); gedeckt sind nur 4 Millionen.

In Deutschland haben wir heute 2 ½ Millionen Kinder, die unmittelbar an ihrem Leben bedroht sind; in den Großstädten allein über 1 Million. Aber 6 Millionen Kinder schweben in mehr oder minder großer Gefahr. Am schlimmsten daran sind die Kinder der Industriebezirke. Von 964 Schulkindern in Flöha waren nach ärztlicher Untersuchung im Jahre 1919 758 unterernährt, aber in Krummhermersdorf von 410 sogar 400. Außerordentlich groß ist die Säuglingssterblichkeit; das statistische Amt der Stadt Berlin stellt für die Wintermonate 20 Prozent fest. Aber bei den Kindern zwischen 5 und 14 Jahren erreicht die Mortalität die Prozentzahl 55.

[…] Die statistischen Ergebnisse einer Rundfrage, vom deutschen Roten Kreuz vor einigen Wochen veranstaltet, beweisen, daß ein wesentlicher Umschwung zum Bessern trotz der großartigen Auslandshilfe im allgemeinen noch nicht eingetreten ist. Das Großstadtelend findet immer neue Nährquellen bei neuen Massen von Arbeitslosen, und in den kleineren Städten sind Tuberkulose und Rachitis in Zunahme begriffen. Das darf die rettende Hilfstätigkeit der Menschenfreunde in der weiten Welt nicht entmutigen, muß sie vielmehr anspornen zu immer ergiebigeren Leistungen. Vor allem fehlt es den deutschen Kindern an Milch und an genügender Unterkleidung. Nur wenn die ganze Menschheit, soweit sie guten Willens ist, ihre barmherzigen Arme ausstreckt nach den notleidenden Kindern, die schuldlos um den Frühling ihres Daseins betrogen sind, nur dann kann Deutschlands Jugend gerettet werden.

Quelle:

Der Deutsche vom 12.11.1920

In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00246778/SDH_19376538_1920_Der_Deutsche_1121.tif?logicalDiv=jportal_jpvolume_00307405

 

Bild:

https://de.wikipedia.org/wiki/Trauerndes_Elternpaar#/media/Datei:Trauerndes_Elternpaar_von_K%C3%A4the_Kollwitz,_Vladslo.jpg