Die Kandidaten im US-Wahlkampf
In der morgigen Präsidentschaftswahl in den USA wird der amtierende Präsident Woodrow Wilson nicht mehr antreten. Die Chancen, dass Warren G. Harding sein Nachfolger wird, sind sehr hoch, wie die Jenaische Zeitung zu berichten weiß.
Wilsons Nachfolger.
Cox oder Harding.
-er. Berlin, 2. Nov.
Am heutigen Dienstag findet im ganzen Gebiet der Vereinigten Staaten von Nordamerika die Wahl der Wahlmänner für die Präsidentschaft statt. Sobald das Ergebnis vorliegt, weiß man, wer der Nachfolger Wilsons sein wird, der Demokrat Cox oder der von den Republikanern aufgestellte Harding. Grundsätzliche Unterschiede für die Wahlparole zwischen den beiden großen Parteien der Republikaner und der Demokraten lassen sich heutzutage schwer noch feststellen; in früheren Zeiten waren sie deutlicher, heute sind sie fast verwischt. Heute fragt sich vielmehr der amerikanische Wähler: welche Persönlichkeit unter den verschiedenen Parteikandidaten gibt die beste Gewähr für die richtige Lösung desjenigen Problems, das zur Wahlzeit gerade die Herzen bewegt? Als 1915 die amerikanischen Bürger zur Wahlurne gingen, sollte über die Stellung Amerikas zum Weltkriege entschieden werden: Die Mehrheit war damals für Neutralität und wählte Wilson, weil er am zuverlässigsten für Wahrung der Neutralität erschien. Jetzt sucht die Union nach dem Mann, der die beste Bürgschaft bietet für die richtige Einstellung des amerikanischen Staates zu dem in Versailles geborenen Völkerbund.
Der demokratische Präsidentschaftskandidat James M. Cox, der früher Mitglied des Repräsentantenhauses und bereits dreimal Gouverneur seines Heimatstaates Ohio gewesen ist, zeigt wenig Interesse für auswärtige Fragen. Cox ist gleich Harding auf einer Farm in Ohio geboren, und er ist gleich ihm heute Herausgeber eines einflußreichen Blattes in diesem Staate, dessen Parlament in beiden Häusern bemerkenswerterweise republikanisch ist. Mit dem Versailler Friedensvertrag hat sich Cox bisher ebensowenig befaßt wie mit dem irischen Problem, und in der Alkoholfrage hat er erklärt, er unterwerfe sich dem 18. Verfassungsgesetz, was aber nicht ausschließt, daß er etwaigen Versuchen des Kongresses, jene Verfassungsbestimmung abzuschwächen, unter Umständen zusehen würde. Die Kandidatur Cox ist eben ein Kompromiß, dem man die mühselige Vorarbeit des Zustandekommens anmerkt. In den Augen vieler Demokraten hat er den Vorzug, kein „Administration Man“ zu sein, wie z. B. Wilson, der sich bei einem erheblichen Teil seiner Partei wegen seines selbstherrlichen Auftretens unmöglich gemacht hat. Die Deutsch-Amerikaner mit ihren 4 Millionen Stimmen sind nicht für Herrn Cox. Er war vor dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg nicht deutschfeindlich, wenn man sich an die von ihm herausgegebene Zeitung „Dayton News“ hält; in Leitartikeln der Zeitung wurde seinerzeit die Versenkung der „Lusitania“ als gerechtfertigte Kriegshandlung gekennzeichnet, vom Kriege gegen Deutschland wollte er nichts wissen. Dies war die Zeit, als Herr Cox auf die deutschen Stimmen in Ohio für das Gouvernementsamt rechnete. Später, nach Ausbruch des Krieges, lief man wacker mit und verdammte alles Deutsche in Grund und Boden, genau wie alle anderen Politiker auch. Herr Cox trug dann sein Hauptteil dazu bei, daß die deutsche Sprache aus den Schulen im Staate Ohio verdrängt wurde. Viele der deutsch-amerikanischen Zeitungen, die in früheren Jahren demokratisch waren und auch für den republikanischen Kandidaten Harding nicht viel übrig haben, arbeiten entschlossen darauf hin, daß Herr Cox geschlagen werde.
Nun zum republikanischen Kandidaten: Warren Harding ist Senator von Ohio und dadurch Vertreter der großen Interessen der östlichen Industriezentren. Die Nachrichten über ihn sind widersprechend, es ist aber wohl falsch, ihn zum liberalen Flügel der republikanischen Partei zu rechnen. Sehr viel spricht dafür, daß Harding als Republikaner alten Stils und sehr großkapitalfreundlich angesehen werden muß. Sein außerordentlich scharfer, fast persönlicher Gegensatz zu Wilson steht fest. Harding gilt aber nicht als Imperialist in politisch-militärischem Sinne. Er ist wirtschaftlich gerichtet, und insofern ist seine Wahl, soweit man bisher urteilen kann, für Deutschland nicht ungünstig. Harding ist der Sohn eines Dorfarztes, seine Mutter ist holländisch-amerikanischer Abstammung. Er studierte in Iberia und mußte sich das Geld für sein Studium selbst verdienen. 1891 verheiratete er sich mit Florence Kling, die deutsch-mennonitischer Abstammung ist. Harding ist Journalist von Beruf und hat sich als Zeitungsherausgeber und Eigentümer des „Star“ einen Namen gemacht. Das Blatt erschien in Ohio. Harding ist gegenwärtig Bankdirektor und Mitglied im Aufsichtsrat einer Reihe von Fabriken. Er war Gouverneur von Ohio und wurde 1912 mit einer Mehrheit von 100.000 in den Senat zu Washington gewählt, wo er dem Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten angehörte. Er hat sich an keinerlei Programm gebunden, nahm aber jetzt natürlich das nunmehrige republikanische Parteiprogramm an.
Paris, 1. Nov. Nach einer Meldung aus Washington stehen die Wetten zugunsten des republikanischen Präsidentschaftskandidaten Harding 8:1.
Quelle:
Jenaische Zeitung vom 2.11.1920
In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00277666/JZ_Jenaische_Zeitung_169419428_1920_11_0007.tif
Bild:
http://www.simplicissimus.info/uploads/tx_lombkswjournaldb/pdf/1/25/25_35.pdf