Die Reaktion ist nicht tot
Das linksliberale Jenaer Volksblatt kritisiert die Berichterstattung und den Sprachstil der rechtsgerichteten Mitteldeutschen Zeitung, die – nach der Meinung des Volksblattes – aufgrund von niederen Motiven die politische Debatte in den Dreck ziehe.
Wilde politische Sitten.
Von Hans Schaack-Erfurt.
Den rechtsstehenden Parteien sind alle Mittel recht, und wenn sie noch so schlecht sind, um die Leidenschaften aufzupeitschen und die politisch ungeschulten Massen an sich zu reißen. Es war zu erwarten, daß auch die Regierungsbildung in Thüringen den Herren von rechts Gelegenheit geben werden, wieder einmal alle Register der Hetze gegen die Demokraten zu ziehen. Ihre ganze Beschäftigung seit dem Tage, da ihre Herrlichkeit in Preußen-Deutschland zusammenbrach, besteht ja nur im Nörgeln und Kritisieren an allem, was die Parteien und Regierungen tun, die nun einmal in diesen durch die Schuld der Deutschnationalen so elend gewordenen Zeiten zu retten suchen müssen, was zu retten ist. Man darf aber von anständigen Politikern, die selbst stets als das Muster deutscher Gesinnung sich hinzustellen belieben, wenigstens erwarten, daß sie ihre Kritik rein sachlich einstellen und begründen. Doch das können sie nicht, weil sie selbst es ja nicht besser zu machen vermöchten und so greifen sie die Männer, die in den Regierungen sitzen, persönlich an und bewerfen sie mit Schmutz und kämpfen also in einer Weise, die eigentlich jeden reinlich denkenden Menschen abstoßen müßte. Kaum ist die Thüringer Regierung gebildet, und schon sind die neuen Männer diesem gleichen Schicksal ausgesetzt. Es wundert uns nicht, wenn das wüsteste Hetzblatt nicht nur in Thüringen, sondern in ganz Mitteldeutschland, die „Mitteldeutsche Zeitung“, ihr ganzes Schimpflexikon gegen sie losläßt, denn etwas anderes als persönliche Verunglimpfung aller, die nicht ins deutschnationale Horn tuten, ist von diesem Blatte ja nicht zu erwarten. Was uns wundert, ist, daß auch das von der Thüringer Leitung der Deutschen Volkspartei herausgegebene Organ, die „Thüringer politischen Nachrichten“, dieselben schmutzigen Wege gehen. In der Nr. 16 bringen sie einen Aufsatz über die neuen Männer in der Thüringischen Regierung, der nicht nur gröbstes Geschütz gegen den verhaßten Herrn von Brandenstein auffährt, sondern auch in hämischen boshaften Andeutungen sich mit dem Minister Dr. Paulssen beschäftigt und besonders den demokratischen Staatsräten Dr. Bielfeld und Dr. Krüger so ziemlich jede Befähigung für ihre Aemter abspricht. Ueber den Geschmack soll man nicht streiten, aber wenn man solche Auslassungen liest, und zwischen den Zeilen eine widerliche Anpreisung der eigenen Partei findet, die doch ganz andere Männer – voll Geist und Ueberzeugungstreue! – gestellt haben würde, so wird man den Grundgedanken nicht los, daß die Triebfeder all dieses Schimpfens und Kritisierens nichts anderes ist, als der blasse Neid.
Und in der Tat hat ja dieser Tage in ihrer blinden Wut die „Mitteldeutsche Zeitung“ die Katze aus dem Sack gelassen. Wieder einmal entrüstet sie sich über die Tatsache, über die sie anscheinend überhaupt nicht hinwegzukommen vermag, daß an Stelle des ihr so genehmen reaktionären Grafen Pückler, der Demokrat Tiedemann im Erfurter Regierungsgebäude seines Amtes waltet. Und wieder einmal geht es in dem sattsam bekannten Tone über die Jagd nach der Futterkrippe her. Als ob die Leute, die jahrzehntelang alle Aemter im Staate von oben bis unten für sich in Anspruch nahmen, kein Gefühl dafür hätten, wie unsäglich sie sich lächerlich machen, wenn sie anderen das Streben nach fetten Posten vorwerfen! Bei dieser Gelegenheit aber läßt, wie gesagt, die „Mitteldeutsche Zeitung“ die Katze aus dem Sack. Sie entrüstet sich darüber, daß die Neuwahlen zum preußischen Landtag nicht schon nach dem Willen der Deutschnationalen am 12. Dezember stattfinden, sondern, da die technischen Vorbereitungen nicht früher vollendet sein können, erst am 20. Februar nächsten Jahres. Und welche Entrüstung, höret und staunt:
„Deshalb sollen wir geduldig waren, unser verfassungsmäßig garaniertes Recht der freien Meinungsäußerung für das Volkswahl bestimmend auszuüben, bis die technische Schwierigkeit beseitigt ist, nämlich die Futterkrippe leer gefressen ist.“
Spricht schon die Dreistigkeit, mit der hier ein Blatt der Deutschnationalen auf verfassungsmäßige Rechte und Volkswohl pocht, der Leute, die jahrzehntelang das Recht des Volkes mit Füßen getreten und ihm das gleiche Wahlrecht verweigert haben, von der ehernen Stirn, mit der diese Schlagworthelden ausgestattet sind, so zeigt vollends das Wort: bis die Futterkrippe leer gefressen ist, den wahren Grund der deutschnationalen Entrüstung auf. Sie haben Angst, die Futterkrippe könnte mit anderen Männern besetzt sein, bis es ihnen endlich gelingt, wieder an die Macht zu gelangen. Sie sehnen sich nach dieser Futterkrippe, die so lange für sie allein da war, mit blähenden Nüstern zurück und möchten sich an ihr wieder so recht nach Herzenslust voll fressen, um im Jargon der „Mitteldeutschen Zeitung“ zu reden. Und dazu soll ihnen all das Volk behilflich sein, das sie mit ihrer Hetze aufpeitschen und an sich reißen. Sieht man in diesen Kreisen, die sich von den deutschnationalen Schlagworten einfangen lassen, noch nicht ein, daß man die eigenen Metzger ins Geschäft zurückbrächte, wenn man den Junkern und Großagrariern wieder zur Futterkrippe verhelfen würde, damit sie wie früher schalten und das Volk knechten und ausnutzen könnten? Wir werden uns das Wort von der leer gefressenen Futterkrippe gut merken, es wird hoffentlich auch dem blindgläubigsten Nachläufer der deutschnationalen Heilslehre endlich die Augen öffnen.
Quelle:
Jenaer Volksblatt vom 29.11.1920
In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00273752/JVB_19201129_280_167758667_Be_001.tif?logicalDiv=jportal_jpvolume_00371173
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Stadt_Erfurt#/media/Datei:DEU_Erfurt_COA.svg