Endschlacht im Russischen Bürgerkrieg
Die letzte Bastion der Weißen Armee auf der Krim ist gefallen. Der Russische Bürgerkrieg ist damit faktisch beendet, auch wenn verschiedene Unruheherde die Rote Armee bis 1922 beschäftigen werden. Der unterlegene Kommandeur der Weißen – der Baltendeutsche Pyotr Wrangel – flieht mit seinen verbliebenen Anhängern und Truppen über das Schwarzmeer. Die Weimarische Landes-Zeitung sorgt sich derweil über die Pläne der Sowjets an ihrer Westfront.
Neue Kriegsgefahr im Osten.
Ueber die Pläne der Sowjet-Regierung nach der Niederlage des Generals Wrangel wird der W. L.-Ztg. „Deutschland“ von einem zuverlässigen Vertrauensmann mitgeteilt:
Aus dem Innern Rußlands droht der Sowjetregierung vorläufig keine Gefahr. Die Rote Armee, gegenüber Wrangel siegreich, soll wieder gegen Polen eingesetzt und durch zuverlässige turkestanische und mongolische Divisionen verstärkt werden. Der Aufmarsch der Roten Armee gegen Polen wird sich reibungslos vollziehen; denn die russischen Soldaten brennen darauf, ihre Niederlage wettzumachen. Auch die Meldungen über mangelhafte Ausrüstung der Roten Armee sind vorsichtig zu bewerten. In den Depots in Sibirien befinden sich große Vorräte an Waffen und Ausrüstungsgegenständen. Diese Vorräte wurden bei dem Rückzuge der tschecho-slowakischen Truppen von diesen käuflich erworben, waren in tadelloser Verfassung und sind amerikanischen Ursprungs. Die Beute aus den Kämpfen mit der Koltschak-Armee ergab auch ungeheure Mengen Material, ebenfalls amerikanische Lieferung bester Qualität. Neuerdings sollen in den Militärdepots regelmäßig Materialsendungen einlaufen, die die Sowjet-Behörden im stillen künftig von Japan erwarben. Allerding kommt es vor, daß die Ausrüstungsnachschübe nicht immer präzise funktionieren. So sind manche Truppenteile vorzüglich ausgerüstet, während andere Mangel leiden. Bisher half den Bolschewiki stets das Kriegsglück. So wurden die totgesagten Reiter Budjennis und eine weitere ganze Armee aus den erbeuteten Lagern in Minsk polnisch-französischer Herkunft vollkommen neu eingekleidet. An der Wrangel-Front fällt ihnen jetzt viel Material in die Hände. Während sich in den antibolschewistischen Heeren das Material in den Depots staut und meist nicht an die kämpfende Truppe abgegeben wird, soll es den Sowjet-Behörden gelungen sein, die Verteilung, wenn auch oft noch stockend zu regeln. Man kann behaupten, daß die Bolschewiki heute über ein für östliche Verhältnisse gutes Heer verfügen, das den Gegnern vollkommen gewachsen ist.
Jedenfalls war die Umgruppierung an der Wrangel-Front und der Vormarsch unter den heutigen Verkehrsverhältnissen eine Meisterleistung. Während der gesamte Eisenbahnverkehr so ziemlich lahmgelegt ist und manche Strecken alle 3 oder 4 Tage höchstens von einem Zug traurigster Art durchfahren werden, verkehren für Militärtransporte auf den Strecken oft 7-8 Züge und mehr täglich. Sie werden von den alten zuverlässigen Eisenbahnern geführt, die der Sowjet-Regierung unbedingt ergeben sind. Für ihr Auskommen wird reichlich gesorgt. Während der sonstige russische Arbeiter darbt, bekommt der Eisenbahner Weißbrot und ist in der Lage, auf den Dörfern während der Durchfahrt genügend Lebensmittel einzukaufen. Kleidung liefert die Sowjet-Regierung aus den Depots. Der Eisenbahner hat keine Veranlassung, dieser Regierung untreu zu werden. Ferner arbeiten für den Bedarf des Heeres ausschließlich die noch in Gang befindlichen Fabriken. An Rohstoffen fehlt es dazu nicht. So haben die Munitionsfabriken jetzt wieder großen Zuschub an Bronze und Buchara zu erwarten. Bei der Einnahme Bucharas fielen den Bolschewiki große Mengen Material aller Art in die Hand. Stoffe, von der Seide angefangen bis zum Leinenstoff, wurden abtransportiert. Auf dem Bahnhof in Taschkent stehen noch Hunderte von Bronzegeschützen, die für die Munitionsfabriken bestimmt sind, während Hunderte sich schon auf dem Wege dorthin befinden. Es handelt sich um vorsintflutliche Stücke, die eingeschmolzen werden.
Die Verpflegung der Armee ist mit der Eroberung Tauriens [d. i. die Krim, Anm.] vollkommen sichergestellt. Sie wird sich für einen Jahresbedarf eindecken, um während des Winters gegen Polen umgruppiert zu werden. Vorwand zum Einschreiten gegen die antibolschewistischen Truppen Balachewitsch und Sawinkoffs und die Vorgänge in Litauen.
Diese Aeußerungen beweisen, daß Deutschland mit aufmerksamen Augen die künftige Entwicklung im Osten beobachten muß. Für Ostpreußen besteht die doppelte Gefahr, daß es dem polnischen Imperialismus zur Beute fällt, oder daß bolschewistische Banden über die Grenzen fluten. Auf alle Fälle muß die Reichsregierung bedacht sein, das Land militärisch so stark, wie es Deutschlands schwache Kräfte erlauben, zu sichern.
Auch im Innern muß man die bolschewistischen Bestrebungen endgültig unterdrücken. Man weiß, daß Deutschland dicht vor der Revolution stand, als das letzte Mal die russischen Heere vor Warschau kämpften. Kommt es zu einem zweiten russisch-polnischen Krieg, werden die Radikalen von neuem versuchen, durch einen Putsch die Herrschaft an sich zu reißen. Es ist nötig, daß sich die Regierung auch gegen diese Bestrebungen, die „Rote Fahne“ und „Internationale“ offen zugeben, rüstet, um Deutschland vor ernsten Verwicklungen zu bewahren.
Quelle:
Weimarische Landes-Zeitung vom 25.11.1920
Bilder:
https://en.wikipedia.org/wiki/Pyotr_Wrangel#/media/File:Pyotr_Wrangel,_portrait_medium.jpg
https://en.wikipedia.org/wiki/Siege_of_Perekop_(1920)#/media/File:Perekop%E2%80%93Chongar_operation_Soviet_plan_map-en.svg