100 Jahre Thüringen
Staatskanzlei Thüringen Weimarer Republik e.V. Forschungsstelle Weimarer Republik an der Uni-Jena

„Gesundung“ in der Mitte

Die DDP hatte bei den Wahlen zur Nationalversammlung fast 19% der Stimmen erhalten und danach versucht sich als dominierende Kraft im bürgerlichen Lager zu etablieren. Bereits 1920 ist angesichts herber Stimmenverluste aber klar, dass dies nicht gelingen wird. In diesem Artikel versucht Gertrud Bäumer dieser Entwicklung aber etwas Positives abzugewinnen, da alle Parteien der Mitte inklusive der MSPD die demokratischen Grundgedanken der DDP inzwischen akzeptieren würden.

Ausstellung zum Frauenwahlrecht (Gertrud Bäumer ganz links)

Genesungserscheinungen.

Von Gertrud Bäumer.

Von Monat zu Monat hat man ausgeschaut nach einem Stück festen Landes, in dem man irgendwelche Hoffnungen auf nationale Krafterneuerung einpflanzen könnte. Aber alles schien ungewiß und trügerisch. Der lärmende Patriotismus der sogenannten „Nationalen“, der die Klüfte im Innern unausgesetzt tiefer spaltete, strahlte viel mehr Leidenschaft als aufbauende, vertrauenserweckende Kraft aus. Und auf der anderen Seite schien es unmöglich, die Massen aus dem Wahnsinn ihres Revolutionsevangeliums herauszugreifen. Es blieb nur das Wissen um die tüchtige deutsche Volksart, bestätigt durch viele Eindrücke von der Geduld, Vernunft und ruhigen Einsicht des kleinen Mannes, wenn man mit ihm als einzelnem und nicht unter der seltsamsten Suggestion der aufgeregten Masse zu tun hat.

So brachten die Wahlen das getreue Abbild des deutschen Seelenzustandes: sie sammelten die Menschen auf der Kampflinie der schroffsten Gegensätze. Die Unversöhnlichkeit hatten das Wort und die seelische Macht. Der Mitte, den politischen Ideen, die Brücken zu bauen imstande waren, entliefen die aufgehetzten Wähler. Es ist begreiflich: die Stimmungen eines ganz und gar zerquälten und überreizten Volkes mußten sich erst einmal hemmungslos entladen.

Seitdem hat die Wirklichkeit ihr erzieherisches Werk begonnen. Man kann nicht Politik machen, indem Opposition an Opposition sich zerreibt. Der Zwang zur Mehrheitsbildung ist ein gesunder Zwang. Er treibt bei unseren deutschen Parteiverhältnissen automatisch und unausweichlich zu einer Mehrheit der Mitte.

Diese Mehrheit muß einen sicheren programmatischen Boden haben, sonst doktort sie nur Kompromisse von Fall zu Fall ohne innere Folgerichtigkeit. Das Notwendigste aber für uns ist Stetigkeit, damit wieder Vertrauen zur Führung die Grundbedingung innerer Ruhe, entstehen kann. Das ist nicht erreichbar, wenn die Politik von der Hand in den Mund lebt.

Als programmatischer Boden einer dauernden, in sich gefestigten Mehrheitsbildung stellen sich nun immer deutlicher – nicht durch Nachdenken, sondern durch die Tatsachen selbst herausgearbeitet – zwei Grundgedanken dar: politisch die Demokratie, wirtschaftlich die Ueberwindung privatwirtschaftlicher Anarchie, nicht durch die marxistische Sozialisierung, sondern durch eine Verbandsorganisation auf sozialer Grundlage.

Der Sieg des demokratischen Gedankens trotz der Niederlage der Demokraten ist geradezu das Kennzeichen dieser Wahlperiode. Die politische Vernunft bezwang die widerstrebenden Menschen: ihr mögt noch so weit nach rechts und links auseinanderlaufen, das verschiebt die Stelle nicht, an der ihr euch notwendig begegnen müßt.

Dieser Sieg besteht nicht nur darin, daß – im Reich wie anderswo, z. B. jetzt in Thüringen – demokratische Politik sogar auf einer Minderheitsbasis gemacht werden muß, sondern mehr noch darin, daß in der Zerbröckelung alter Programme und der Ratlosigkeit neuen Fragen gegenüber die demokratische Idee das politisch einzig Feste ist. Was bleibt das Rückgrat der Sozialdemokratie, nachdem der Kasseler Parteitag die Partei in der Frage des sozialistischen Wirtschaftsprogramms vollkommen ratlos und schwankend gezeigt hat? Nur der demokratische Staatsgedanke. Und worin besteht der moralische Halt, den die Majorität der Arbeiterschaft dem roten Glauben entgegenstellt – bewußt und unbewußt – anders, als in einem Stückchen demokratischen Staatsgefühls! Unter der Führung dieses Bewußtseins von der Gerechtigkeit als dem Staatsfundament könnte die Genesung unseres Volkes sich vollenden, wenn man freudig, glaubensvoll und konsequent diese aufbauende Kraft ihr Werk vollziehen ließe und sie nicht schmähen und herabsetzen wollte.

[…]

Aber allerdings: diese Genesung wird nur dann kommen, wenn mit der von den Parteien der Rechten ja auch vertretenen sozialen Umgestaltung des Verhältnisses von Kapital und Arbeit Ernst gemacht wird. Wir stehen gerade unter dem Eindruck großer neuer Konzentrationsbewegungen in der deutschen Wirtschaft. Der organisatorischen Kraft dieser Bewegung versagt auch die Sozialdemokratie ihre Bewunderung nicht. Sie weiß im Grunde: die es können, sind Stinnes und seinesgleichen, nicht Ledebour und Löwenstein. Der Bolschewismus bemüht sich in Rußland mit ganz ähnlichen wirtschaftsorganisatorischen Versuchen, die er dem Kapitalismus absah. Die Vertrustung als planwirtschaftliches Prinzip mit Arbeiterbeteiligung – das ist das wirtschaftspolitische Einigungsprogramm, das die Dogmatik der Sozialdemokratie überwinden muß.

Wenn erst einmal alle Volkskreise mit ihren Abrechnungen über die Vergangenheit fertig sind und sich dem Aufbau nicht nur theoretisch, sondern wirklich zuwenden, dann wird die demokratische Mitte nicht nur als unvermeidlicher Treffpunkt zwischen rechts und links, dann wird die mittlere Linie nicht nur als Diagonale weit auseinanderstrebender Kräfte zustande kommen, sondern diese Mitte wird der Gesinnungs- und Willensboden für alle sein, die ehrlich die Einheit und die Aufrichtung wollen.

Es scheint, als ob sich Anzeichen einer solchen Gesundung melden!

Quelle:

Jenaer Volksblatt vom 18.11.1920

In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00273743/JVB_19201118_271_167758667_B1_001.tif?logicalDiv=jportal_jpvolume_00371164

 

Bild:

https://de.wikipedia.org/wiki/Gertrud_B%C3%A4umer#/media/Datei:Damenwahl_-_Banner_Frauen_zur_Wahl.jpg