Irlands Unabhängigkeit nimmt Gestalt an
Mit einer einseitigen Erklärung erlangte Irland 1919 die faktische Unabhängigkeit von Großbritannien. Dort wurde dieser Schritt nicht akzeptiert, was zum Irischen Unabhängigkeitskrieg führte. Die dominierende Kraft auf irischer Seite war dabei Sinn Féin, wobei die Partei eine überwältigende . Dieser Artikel schildert den bisher erreichten Stand der Unabhängigkeit.
Das wahre Gesicht der irischen Frage.
Von Hubert Henoch.
Wenn man den aus englischer Quelle fließenden Nachrichten über Irland trauen wollte, so müßten die Sinnfeiner, die Träger der Unabhängigkeitsbewegung, als eine Bande von Mördern, Dieben und Brandstiftern erscheinen. Die Wirklichkeit ist ganz anders, wir haben hier ein Seitenstück zu der von Großbritannien während des Krieges betriebenen Lügenpropaganda, die tagaus, tagein Nachrichten über den Gegner in die Welt schickt, die ihn moralisch auf das schwerste belasten sollen. Die Wirklichkeit ist, daß ein starkes Aufgebot von Truppen und Polizei erfolgt gegen ein schwaches, kleines Völkchen, das seine Unabhängigkeit und seine Freiheit verlangt, und daß gerade eine Nation, die im Sport und im ganzen Leben immer das Wort „ehrliches Spiel“ im Munde führt, mit ungeheurer Uebermacht und unter Anwendung brutalster Mittel gegen einen Schwachen, Wehrlosen im Felde steht. Der typische englische Pharisäismus! In den Londoner „Daily News“ ist aber nachgewiesen worden, daß seit dem Beginn der Unruhen, April 1916, in Irland viel mehr Iren von Engländern getötet worden sind, als Engländer von Iren, jedenfalls aber viel weniger, als in Großbritannien Opfer der gewöhnlichen Verbrechen geworden sind.
Sinnfein, die Vereinigung für die Unabhängigkeit Irlands, nimmt für sich in Anspruch und macht es glaubhaft, daß es das Land besser, erfolgreicher, segensreicher regiert, als es je einer der im Dubliner Schlosse sitzenden englischen Vizekönige – zurzeit General French – vermocht hat. Diese heißblütigen Patrioten wehren nicht nur englische Uebergriffe ab und streiten nicht nur gegen die Brutalitäten englischer Tommys, sondern sie haben inzwischen neben der englischen eine eigene Verwaltung auf- und ausgebaut, deren Räderwerk auf das beste arbeitet. Die Seele dieser Verwaltung ist Dail Eireann, die republikanische Volksvertretung, die im Dezember 1918 etwa 80 Mann stark gewählt wurde. Sie hat den zurzeit in Nordamerika, sicher vor englischer Verfolgung, lebenden Präsidenten de Valera erkoren, und aus ihrer Mitte ist das republikanische irische Ministerium hervorgegangen, wie sie auch diplomatische Vertreter nach wichtigen Plätzen des Auslandes entsandt hat. Das Ministerium schreibt Anleihen aus, errichtet Banken und andere nationalwirtschaftliche Unternehmungen, mit einem Worte, es hat die gedankenlose über Irland gesetzte englische Bureaukratie ersetzt durch eine lebendige, aufbauende, von dem Vertrauen der Mehrheit des Volkes getragene nationalirische Verwaltung. Die Iren haben heute die gesamte Justiz in ihre Hand genommen. Die englischen Gerichte auf der grünen Insel sind lahmgelegt, weil sich weder Geschworene, noch Angeklagte und Zeugen, vielleicht nicht einmal alle beamteten Richter zu den Gerichtstagen einfinden. Dagegen sitzt, etwa in derselben Straße, der irische Gerichtshof, der, allseitig anerkannt, Recht spricht und erreicht hat, daß in Irland die Kriminalität in starker Abnahme begriffen ist. Dabei wirkt die freiwillige irische Polizei mit. In gleicher Weise werden bürgerliche Streitigkeiten vor den von Sinnfein eingesetzten Zivilgerichten ausgetragen, deren Urteilssprüchen sich jedermann beugt.
In der Welt gilt der Ire als dem Alkohol ergeben, die englischen Witzblätter bringen als ständige Figur den Trunkenbold Pat. Wenn je, so ist auf der grünen Insel der Alkoholismus eine Begleiterscheinung wirtschaftlichen Elends gewesen. Sinnfein hat erkannt, daß die englische Herrschaft die Trunksucht nicht nur geduldet, sondern teilweise sogar gefördert hat, und hat einen nachhaltigen Kampf dagegen eingeleitet, der wunderbare Erfolge errang. Das verbotene Whisky-Destillieren wurde unterdrückt, und wo immer die junge Republik die Zügel ergreift, da gibt es frühe Polizeistunden für Schankwirtschaften und größere Nüchternheit. Das erwähnte wirtschaftliche Elend Irlands erklärt sich aus dem überwiegenden Großgrundbesitz, der einen Bauernstand und Kleinbesitz nicht aufkommen ließ. Die Folge war eine starke Abwanderung der jungen Männer in Länder, wo sie ihren natürlichen Landhunger stillen konnten, beispielsweise nach Nordamerika. Sinnfein hat auch die irische Landfrage in die Hand genommen. Nicht nach dem Vorgange der russischen Revolution, indem man die Großgrundbesitzer verjagte oder totschlug und den Boden unter den besitzlosen Bauern aufteilte, sondern in vollkommen gesetzmäßiger Weise. Die bisher landwirtschaftlich nur extensiv genutzten Flächen werden enteignet und gegen Bezahlung oder in Erbpacht an geeignete Bewerber abgegeben.
So ist die früher ausgedehnte irische Auswanderung wesentlich zurückgegangen, weil viele im Lande Besitz und ein erträgliches Auskommen erlangen können, was einst unmöglich war. Nichts kennzeichnet die englische Herrschaft so deutlich, wie ein Ausspruch, den im Anfang dieses Jahres der Vizekönig Lord French zu einem französischen Berichterstatter tat: „Der Hauptgrund der Unruhen liegt darin, daß seit einem Jahrfünft die Auswanderung ausgesetzt hat. Es sind gegen 200.000 junge Männer zwischen 18 und 25 Jahren vorhanden, die normalerweise auswandern müssen.“ Und als der Franzose fragte, ob also erst dann wieder Ruhe einkehren würde, wenn die Auswanderung wieder einsetze, bejahte er diese Frage. Sinnfein kann auf seine aufbauende Tätigkeit stolz sein, die englische Regierung muß ohnmächtig ihren Bankerott erklären. Sie trägt die Verantwortung für den Bürgerkrieg in Irland, das sie mit einem Netz von Spionage und Bestechung überzieht oder wenigstens zu überziehen bemüht ist. Sie zettelt, mit Vorliebe nächtlicherweise, Ueberfälle auf die Häuser der Sinnfein-Anhänger, auf die irischen Banken und dergleichen an, läßt die Tommys rauben, plündern und morden, kerkert Verdächtige ohne Untersuchung ein und benimmt sich in dieser Provinz des Vereinigten Königreichs wie in einem feindlichen Lande und jedenfalls viel schlimmer, als ihre verlogene Presse es der preußischen Verwaltung in den Ostprovinzen je nachsagen konnte. Sie will uns auch heute durch die gefälschten Feststellungen des Reuterbureaus und der „Times“ über das wahre Gesicht der irischen Frage täuschen. Sie übersät das Land mit Blockhäusern, wie vor zwanzig Jahren das Gebiet der kleinen südafrikanischen Burenrepubliken. Wie damals das rechtlich denkende deutsche Volk diesen seine Sympathien zuwandte, so steht auch in Deutschland heute jeder Sittlichgerichtete mit seinem Herzen bei den Iren und wünscht ihnen aus voller Seele den Sieg in diesem Kampfe um Freiheit und Selbstbestimmung.
Quelle:
Der Deutsche vom 13.11.1920
In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00246778/SDH_19376538_1920_Der_Deutsche_1147.tif?logicalDiv=jportal_jpvolume_00307410
Bilder:
https://en.wikipedia.org/wiki/Irish_War_of_Independence#/media/File:Irish_UK_election_1918.png
https://en.wikipedia.org/wiki/%C3%89amon_de_Valera#/media/File:%C3%89amon_de_Valera.jpg
https://de.wikipedia.org/wiki/D%C3%A1il_%C3%89ireann_(House_of_Assembly)#/media/Datei:D%C3%A1il_%C3%89ireann_meeting_in_the_Mansion_House,_August,_1921_(17068860698).jpg