Pressestreit in Sondershausen
„Der Deutsche“ aus Sondershausen sieht sich durch das neue sozialistische Parteiblatt – den „Volksboten“ – herausgefordert und attackiert den Leitartikler des Blattes. Der unter dem Pseudonym „Werther“ erschienene Artikel, der den Zorn des „Deutschen“ erregte, stammte aus der Feder eines Gymnasiasten. Entgegen der Ankündigung am Ende des Artikels wird sich der „Deutsche“ noch öfters mit „Werther“ beschäftigen.
„Werthers“ Leiden.
Dem „Volksboten“ zum Geleit. *)
Die schon seit längerer Zeit angekündigte „Sensation“ ist nun zur Wirklichkeit geworden, der „Volksbote für Nordthüringen“ hat seine Werbeexemplare von Haus zu Haus tragen lassen und wer noch irgendwelche Zweifel über den Geist trug, der dieses Organ der radikal-sozialistischen Richtung beseelen würde, dem dürften nach dieser Kostprobe die Augen aufgegangen sein. Auf der 2. Seite der Zeitung prangt das stolze Wort: „Der Fluch des Volkes ist eben eine verlogene Presse!“ Die Richtigkeit dieses Ausspruches sucht der Leitartikler „Werther“ in einem bombastischen Artikel auf der ersten Seite des Blattes zu beweisen. Alle die üblichen Register der Verhetzungstaktik der linksradikalen Presse werden gezogen. Die bürgerliche Zeitung wird natürlich zunächst als „bürgerlich-kapitalistisches Kleinstadtreptil“ an den Pranger gestellt. Unter welche Klasse des großen Tierreiches soll man denn den „Volksboten“ einreihen? Und dann im Stil wüstester Kinoromantik ein Sittengemälde aus einer „Industriestadt Thüringens“ (Sondershausen? Jecha? oder Stockhausen?). Das Elend einer fünfköpfigen Proletarierfamilie, ein Bett für alle, ein „dreibeiniger“ Stuhl, ein Tisch „als Brennholz zu schäbig“ und nun sträubt sich selbst „Werthers“ Feder: auf diesem Tisch liegt, wie „das Steppentier bei den Grönlandfischern“ das Lieblingsblatt der bürgerlichen-kapitalistischen Spießerkaste!
Kein vernünftiger Mensch, selbst wenn er das Unglück hat, ein elender Bourgeois oder verhaßter Spießer zu sein, wird bestreiten, daß es unter Arbeitslosen grenzenloses Elend gibt und daß mit allen nur erdenklichen Mitteln gearbeitet werden muß, um dieses Elend nach Möglichkeit zu lindern. An dieser Aufgabe arbeiten Tausende der fähigsten Köpfe, sie kann nur erreicht werden durch eine Gesundung unserer völlig verfahrenen Verhältnisse und nicht durch eine wüste Hetze, die durch neuen Umsturz, Unruhen usw. nur zu noch größerem Elend führen muß. Auch ist es leicht, sich grausige Bilder des Leidens und Jammers – noch grausiger als sie „Werther“ entwirft, aus den Fingern zu saugen. Ober will er etwa seine Schilderung mit einem Beispiel aus Sondershausen belegen?
„Nicht Verwirrung, nicht Klärung“ will ja der „Volksbote“ und wir wollen ihm dabei mithelfen, in dem wir die Stellen unterstreichen, an denen er sein Mäntelchen etwas gelüftet hat und sein wahres Gesicht zeigt, damit alle sich klar sind über seine wahren Ziele, selbst wenn er aus gewissen Gründen manchmal vielleicht die Maske der Versöhnlichkeit verbinden sollte. „Wir kennen keine Rache“ singt der Dichter „Werther“ des Volksboten, das ist aber wohl nur als dichterische Freiheit zu bewerten; denn an andern Stellen des Blattes weht andere Luft. So ist ein Artikel dem Kronprinzen Rupprecht von Bayern gewidmet. Er schließt: „Nicht er wird an die Macht gelangen, sondern das Proletariat, das sich nur entsprechend auf die Machtergreifung und die Ausübung der Diktatur vorzubereiten hat.“
Es ist ein Sprung vom Ernsten zum Lächerlichen. Klingt es nicht wie Selbstironisierung, wenn der „Volksbote“ an einer andern Stelle schreibt:
„Wir werden nicht früher die Feder aus der Hand legen, bis wir allen schaffenden Kräften die Erkenntnis in die Hirne gehämmert haben, daß erst der letzte Kapitalist neben dem letzten Proletarier zu Grabe getragen sein muß, bis eine vernünftige natürliche Wirtschaftsordnung beginnen kann!“
Man liest und staunt! Also wirklich eine Utopie! Erst wenn das Chaos – das absolute Chaos eingetreten ist. Wenn die Welt menschenleer geworden, wenn der letzte Kapitalist friedlich neben dem letzten Proletarier unter dem grünen Rasen schlummert – dann beginnt die „vernünftige“ Wirtschaftsordnung des „Volksboten“. Die ersehnte Diktatur des Proletariats würde sich demnach in Form einer spiritistischen Sitzung abspielen. Man darf gespannt sein, ob der „Volksbote“ seine Leserschaft auch künftighin mit derartiger geistiger Kost beglücken wird.
Und nun noch eine Frage an die zahlreichen Geschäftsleute, die ihre Geschäftstüchtigkeit durch Unterstützung des neuen Unternehmens mit Anzeigen bewiesen haben, eines Unternehmens, das offenkundig auf die Vernichtung des Bürgertums ausgeht. Haben diese Herren bedacht, das sie ja selbst zu diesen verruchten Bourgeois, zu dieser bürgerlich-kapitalistischen Spießerkaste gehören? Wollen sie mit Hand anlegen an den Spaten, der ihr eigen Grab schaufeln soll?
Merkst Du noch immer nichts armer, deutscher Michel?
Ekkehart.
*) Wir erklären von vornherein, daß wir nicht die Absicht haben, dem „Volksboten“ die Freude zu machen, uns etwa täglich auf „Anzapfungen“, deren Ton man ja schon im Voraus kennt, einzulassen, sondern wir wenden uns nur ausnahmsweise, wenn es im allgemeinen Interesse liegt, mit ihm beschäftigen.
Quelle:
Der Deutsche vom 29.11.1920
In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00246778/SDH_19376538_1920_Der_Deutsche_1199.tif?logicalDiv=jportal_jpvolume_00307434
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Sondershausen#/media/Datei:Sondershausen_01.JPG