Von rechts gegen Thüringen
Die Dauer der Regierungsbildung trug ebenso wie das spätere Ergebnis dazu bei, dass das rechte Spektrum dem jungen Freistaat ablehnend gegenüberstand. In dieser Sicht wird Thüringen zu einem zusammengewürfelten, geschichtslosen Gebilde, dass nur von einer vermeintlich übergriffigen, weil sozialdemokratisch dominierten Verwaltung zusammengehalten werde. Dieser Artikel der rechtsnationalistischen Jenaischen Zeitung zeigt sich neidisch auf das Schicksal der Coburger, die einen Anschluss an Thüringen abgelehnt hatten.
Thüringen als Uebergang.
Zur thüringischen Frage, die jetzt viel umstritten wird, schreibt man uns:
„In Coburg waren jetzt einmal 500 Gänse auf dem Markt, das Stück zu je 45-70 Mk.“, redet ein Freund mich an. „Glückliches Land“, sage ich, mir eine Martinsgans zu Jenaer Preisen im Bilde denkend. „Na, und die Moral von der Geschichte?“ fragt er, und fährt fort: „Laßt uns bayerisch werden!“ „Vielleicht“, sage ich, „und das gute Bier dazu, und sein Leibblatt wird einem auch nicht durch Kühnerische Presseamtsartikel verleidet!“
Am nächsten Tag fragt mich ein andrer Bekannter: „Wie denken Sie über die Regierungsbildung in Thüringen? Wir wollen doch bayerisch werden, Bayern ist doch schon wieder das Land der Ordnung, wo sich leben läßt. Da ist doch eine Regierung, die nicht in der Hauptsache in Autoausrüstung regiert, auf Tagungen Arbeiten leistet, die meist nur „Vorarbeiten“ bleiben. Und die Wucherverordnungen dort!“ Gegen diese Beweisgründe könnte ich nicht ankommen, wenn ich Anschluß an Preußen empfehlen wollte. Thüringen aber als Land ist auch ein Wechselbalg, nichts Halbes und nichts Ganzes. Brandensteinsches Gemächte.
Thüringen wurde neulich in der „Jen. Zeitung“ empfohlen, weil sich der Wiederaufbau des zusammengebrochenen Deutschlands von unten her, in engeren Bezirken vollziehen müsse. Der Gedanke ist durchaus richtig, trifft den Kern, sieht die Entwicklung, wie sie sich schon sichtbar anbahnt. Aber gleichwohl ist damit das Land Thüringen nicht zu empfehlen. Die Thüringer Länder sind entstanden in alten Zeiten, wo es noch nicht die jetzige Wirtschaft und ihren Verkehr gab, durch Erbschaften der Fürsten, durch Erbteilungen, dadurch, daß Fürsten irgend einen Landzipfel mit den Leuten verkauften, vertauschten oder sonstwie damit privatrechtlich wirtschafteten. Dann kam der Schacher des Wiener Kongresses, der auch recht obenhin und von oben her mit Land und Leuten umging. Längst hatten sich wirtschaftlich neue Zusammengehörigkeiten gebildet. Aber einer neuen Regelung stand das Wort entgegen, daß man ruhen lassen solle, was ruhe; es stand entgegen die Ueberlieferung der Fürsten, ihr Machtbesitz und der Machtbesitz der Bürokratie, die schon immer allmächtig war und sich zu erhalten strebte. Die Bürokratie von alters her, als Nurbürokratie oder in Akrobatenkunst sich anpassend und sich mit einer neuen Bürokratie vermischend, wurde Machthaber in den republikanischen Zwergstaaten. Man einigte sich nun leicht zu einem Land Thüringen. Erstens einmal blieben die bisherigen Ministerien bestehen und dann war leicht abgemacht, in der Gesamtregierung sitze auch Herr Benz von Meiningen, Herr Fröhlich von Altenburg, Herr Brandenstein von Gera usw. Jeder wurde befriedigt.
Jetzt bei der sogen. Regierungsbildung ist der Schacher der Parlamentsbürokratie in Reinzucht da. Die bösen Deutschnationalen, vor denen die Linke so Angst hat, dürften nicht mitmachen, im übrigen wird die Sache geordnet: die Plätze werden verteilt.
Aber man sollte doch lieber von einer Regierungsbildung absehen, nicht neue Stellen schaffen und neue Zimmereinrichtungen heranholen und Räume neu herrichten. Man sollte erst einmal abwarten, was noch werden mag. Man sollte sich behelfen, bis eine neue Gliederung Deutschlands kommt. Denn noch sind wir nicht am Ende des Brodelns und Gärens. Wer weiß, was noch werden mag.
Die jetzige Gestaltung Thüringens mit den abgerissenen Zipfeln, den eingesprengten Fetzen und den ganz unnatürlichen Zickzacklinien, auch mitten durch Dörfer hindurch (z. B. Blankenstein a. d. S.), ist doch nichts wirtschaftlich und natürlich Geschlossenes und Zusammengehöriges. Da alles im Schmelztiegel ist, kann nicht mehr gelten, daß man ruhen lassen solle, was ruht. Man mußt trotz des Fortwirkens der Ueberlieferung versuchen, eine neue, gründliche Gliederung zu schaffen.
Die alten Staatseinrichtungen und Staatsgrenzen können nicht mehr maßgebend sein. Der Staat hat nicht mehr die Bedeutung wie früher. Los vom Staat, heißt es jetzt überall. Abbau der Staatseinrichtung, hin zur Autonomie der Provinzen und Landschaften, hin zur Selbstverwaltung, zur wirtschaftlichen Gliederung und Körperschaftsverwaltung.
Die Staatsallmacht, die Verbeamtung war bis zum höchsten Gipfel gestiegen, war bis zu den äußersten Folgerungen gesteigert, bis dahin, wo sie unerträglich wird (vergl. Kriegsgesellschaften, die Unmenge von Ministerien und Aemtern). Wie überall, so bringt das Uebermaß einen Rückschlag.
Die Reichsregierung hat einen Ausschuß eingesetzt zur Beratung der Neugliederung Deutschlands. Das allein würde noch nicht viel besagen: es gibt viele Ausschüsse, die nichts leisten. Doch zeigt der Gedanke schon sichtbare Spuren im Leben, in den Organisationen der Wirtschaft; Umformungen, Neubildungen, Ankristallisationen werden sichtbar.
[…]
Und da ist doch die Frage, ob Thüringen überhaupt noch lebensfähig ist. Wie Coburg, so gehören doch Meiningen, Sonneberg, Hirschberg usw. nach der Bevölkerungszusammensetzung und den wirtschaftlichen Beziehungen zu Bayern, Altenburg liegt vor den Toren Leipzigs, das Kohlengebiet in Altenburg gehört zusammen mit dem Preußens und Sachsens, die Webereiindustrie hängt dort ebenfalls mit Sachsen zusammen. Frankenhausen, Sondershausen, Allstedt, der Kyffhäuser sind doch keine Inseln in der Goldenen Aue. Geisa und was sonst noch 1815 zu Weimar gekommen ist, neigt zu Fulda und Hessen usw. Man sieht, es ist noch alles im Fluß. Daher hüte man sich davor, neue Stellen zu schaffen, die die Neugliederung Deutschlands nach wirtschaftlicher Lebensordnung, nach wirtschaftlichen Bedürfnissen nur hindern und hemmen. Preußen wehrt sich gegen die Zerschlagung. Es war eine Einheit und will eine Einheit bleiben. Thüringen ist keine Einheit, weder von Meuselwitz bis Kaltennordheim, noch von Sondershausen bis Sonneberg. Es muß organisch, lebendig von innen heraus neu gegliedert werden. Nur dann kann es vernünftig verwaltet werden, nur dann braucht es keine Verwaltung im Umherziehen.
Quelle:
Jenaische Zeitung vom 1.11.1920
In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00277666/JZ_Jenaische_Zeitung_169419428_1920_11_0005.tif
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Freistaat_Coburg#/media/Datei:Karte-HSC.png