Anti-Antisemitismus aus Gera
Bereits im Ersten Weltkrieg war der Judenhass aufgeflammt. Verschwörungstheorien über die vermeintliche Verantwortung der Juden für die Kriegsniederlage breiteten sich auch in den 1920ern aus. Die jüdische Bevölkerung sah sich gezwungen dem Antisemitismus entgegenzutreten, wovon das Jenaer Volksblatt berichtet. Der Autor Max Biermann leitete in Gera ein Kaufhaus. Deutschlandweit versuchte u.a. der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten den Lügen entgegenzutreten.
Hass oder Versöhnung?
Zu den beliebtesten antisemitischen Kampfmitteln gehört das Ankleben von Zetteln beleidigenden Inhalts an den Häusern von Juden. Jugendlicher Fanatismus, der von gewissenlosen Agitatoren aufgepeitscht wird, mag manches entschuldigen. Keine Vorstellung haben aber diese jungen Herren meist von den Wirkungen, die sie durch ihre lichtscheuen Taten erzielen. Nachstehend veröffentlichen wir nun den Aufschrei einer solchen gequälten Seele, den wir in den Geraer Zeitungen finden:
Offener Brief an die Herren Zettelkleber:
Schweren Entschlusses beschreite ich den Weg der Oeffentlichkeit, um mich einmal mit Ihnen, junge Herren, auseinanderzusetzen. – Ich kannte früher nur Zettelkleber an Litfaßsäulen, die allerdings am Tage ihr Handwerk übten. Eine neue Erscheinung bieten nun Sie, meine Herren, die, ein „Vorbild höchster Pflichterfüllung”, selbst die Nacht zu Hilfe nehmen, um dem deutschen Volke wieder in den Sattel zu helfen! – Sie beschmutzen Türen und Fenster mit Unflätigkeiten, die keinem übleren Zweck dienen sollen, als einer geringen Anzahl Juden, wie alle Menschen mehr oder minder gut, die Existenz abzugraben. – Beklagenswert Verführte, gehen Sie dem schändlichen Gewerbe nach, das Menschen überhaupt betreiben können, lassen Sie sich missbrauchen als Handlanger von Buben, die für Deutschland zu kämpfen auf ihr Panier geschrieben haben, denen jedoch eine Pöbelhaftigkeit der Gesinnung, eine Feigheit der Kampfesweise und eine Verworfenheit der Ausdrucksform zu Gebote stehen, deren sich der Deutsche in jederlei Gestalt aus tiefster Seele schämen muss! Wann wurde jemals ein solcher Grad von Unsittlichkeit erreicht, der, niemanden und nichts unterscheidend, aus sicherem Versteck seine vergifteten Pfeile sendet und doch die Kühnheit hat, sich ein deutscher Bund zu nennen? – Durch welche Zauberei konnte das Ideal jeglicher, auch Ihrer Kindheit, stets treu, wahr und gerecht zu sein, so rückhaltlos gebrochen werden?
Sie kämpfen mit Feigheit und Niedertracht und wollen eins sein mit den hehren Trägern wahren Deutschtums, die die Jahrhunderte erfüllten mit ihrer Tugend, ihrem Geiste und ihrem Ruhm?
Nicht für mich und mein Haus spreche ich zu Ihnen! Der Ekel einer empörten, gepeinigten Glaubensgemeinschaft ist Stimme geworden aus mir, und nur ein beklage ich: reden zu müssen, wo besser Fanfarenton erschallte, die Gerechten aller Konfessionen um ein großes Leid zu versammeln!
Statt im Dunkel der Nacht Gift zu säen, sollten Sie, junge Herren, den Tag nutzen und ohne Einbuße an Schlaf sich in besseren Taten üben, nachdenken lernen, wie man die Menschen zusammenführt! – Sie würden dann auf manchen Juden stoßen, der Sittlichkeit und Vaterlandsliebe genug besitzt, um als durchaus wertvolles Glied am Wiederaufbau der Heimat mitzuwirken! – Vorläufig, junge Herren, sind Sie, im Banne einer finsteren Nacht, weder Deutsche noch wahre Christen! Denn beide stellen, genau wie echtes Judentum, höhere Ansprüche an die Seele der Menschen!
Vor allem müssten Sie begreifen lernen, dass aufbauende Arbeit dem Vaterlande mehr diente als Hakenkreuz, Kleben und Briefchenschreiben. Wieviel besser ließe sich der hochwertige Klebstoff nutzen, den Sie zu verwenden pflegen! – Ich, für meinen Teil, habe zwar kein Bedürfnis, Ihre Komplimente zu entfernen; ich wünschte, sie wären so wetterfest, dass meine Urenkel noch sehen könnten, mit welchem Straßenpöbel der Urgroßvater dereinst zu kämpfen hatte!
Vielleicht, so will ich hoffen, vermögen Sie doch noch mit der eigenen Kraft Ihrer Jugend den Dunkelpfaden zu entrinnen, auf denen der Mensch nur rückwärts schreiten kann. Sonst wird ihre Generation das Schandmal des Hasses auf der Stirn tragend, dereinst vergebens die Stätte in Menschenherzen suchen müssen, die Ihre eigene rohe Hand zerschlug.
Max Biermann (senior).
Eine treffendere Kennzeichnung der Judenhetze in Bausch und Bogen lässt sich kaum denken. Wir hoffen, dass ihre Weiterverbreitung gleich Schlimmes verhüten, mindestens aber zum Nachdenken Veranlassung geben wird.
Quelle:
Jenaer Volksblatt vom 21.10.1920
In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00273720/JVB_19201021_248_167758667_Be_001.tif?logicalDiv=jportal_jpvolume_00371141
Bilder:
https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Juden_in_Deutschland#/media/Datei:1920_poster_12000_Jewish_soldiers_KIA_for_the_fatherland.jpg
https://de.wikipedia.org/wiki/Aenne_Biermann#/media/Datei:Aenne_biermann.jpg