100 Jahre Thüringen
Staatskanzlei Thüringen Weimarer Republik e.V. Forschungsstelle Weimarer Republik an der Uni-Jena

Aufbau oder Streik?

Die rechtsnationalistische Jenaische Zeitung kommentiert eine Rede des USPD-Politikers Rudolf Hilferding zur „konstruktiven Idee“ des Sozialismus. Das Blatt zweifelt am guten Willen der Linkssozialisten und verweist auf die anhaltenden Streiks, die die Versorgungslage weiter verschlechtern.

Rudolf Hilferding, 1923

Der aufbauende Gedanke.

W.W. Es ist etwas Schönes um große Gesten und um große Redensarten. Da hielt am 5. Oktober auf dem Betriebsrätekongress der Schriftleiter der „Freiheit“, Dr. Rudolf Hilferding, den Hauptvortrag über die politischen und ökonomischen Machtverhältnisse und die Sozialisierung. Aus diesem Vortrag verdient ein Satz herausgehoben zu werden, nicht weil er sich durch einen besonders eigengearteten Inhalt auszeichnet, sondern weil sein Inhalt im gleichen Augenblick durch ein bestimmtes Ereignis in das Gegenteil verkehrt wurde. Hilferding erwähnte nämlich den Ausspruch eines englischen Gewerkschaftsführers, daß „die konstruktive Idee des Sozialismus“ das Proletariat zum Siege führen werde. Nun lässt sich „konstruktive Idee“ ganz gut mit „aufbauender Gedanke“ übersetzen. – Es würde überhaupt nichts schaden, wenn der wissenschaftliche Sozialismus sich eines einfachen und klaren Deutsch bediente. Die Wissenschaft selbst leidet darunter nicht. Kaum hatte Hilferding die „konstruktive Idee“ gepriesen, als sich der Versammlung der Betriebsräte eine gewisse Unruhe bemächtigte. Es wurde nämlich bekannt, daß die Kesselheizer eines Berliner Elektrizitätswerkes plötzlich in den Streik getreten sein, sodass die unmittelbare Gefahr der Einstellung des Straßenbahnverkehrs drohte. Der Ausbruch des Streiks geschah also urplötzlich. Keine Kündigung war vorangegangen. Die Kesselheizer legten einfach die Arbeit nieder, ohne erst das Ergebnis der Verhandlung abzuwarten. Hatten sie in ihren Zeitungen nicht davon gelesen, daß die englischen Bergarbeiter schon seit Monaten verhandeln, daß sie die regelrechte Kündigung wiederholt verfallen ließen, weil sich noch Aussicht auf Verständigung bot? Wo liegt in dem Verhalten der Berliner Kesselheizer der aufbauende Gedanke des Sozialismus? Diese Gruppe besteht nicht nur aus Sozialisten, sie glaubt auch eine sozialistische Tat begangen zu haben, als sie Groß-Berlin den Strom sperrte. Der Straßenbahnverkehr kam zum Erliegen, die Fabriken und Geschäfte mußten schließen. Die völlige Dunkelheit der Straßen erleichterte nur dem lichtscheuen Gesindel die „Arbeit“. Aber in den Krankenhäusern und Lazaretten konnten die Ärzte nicht eingreifen, wo es notwendig war. Gehört das alles zum aufbauenden Gedanken des Sozialismus? Auch die Kesselheizer wollen ihn verwirklichen, beweisen aber nur, wie wenig Gemeinschaftsgefühl noch in ihnen steckt.

Quelle:

Jenaische Zeitung vom 13.10.1920

In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00277666/JZ_Jenaische_Zeitung_169419428_1920_10_0075.tif?logicalDiv=jportal_jpvolume_00376238

 

Bild:

https://de.wikipedia.org/wiki/Rudolf_Hilferding#/media/Datei:Bundesarchiv_Bild_102-00144,_Rudolf_Hilferding.jpg