Die Kreisreform bleibt umstritten
Das Land Thüringen bracht eine neue Kreiseinteilung. Die Kreise der ehemals eigenständigen Kleinstaaten können nicht einfach übernommen werden. Widerstände sind dabei vorprogrammiert, da historisch gewachsenen Gebiete zerteilt und neue Identitäten gebildet werden müssen. Wirtschaftliche Erwägungen sind ebenso Streitpunkte, wie die Frage, wo die Kreisbehörden sitzen können bzw. sollen. Das alles klingt für heutige Ohren seltsam vertraut…
Ostthüringen und die neue Thür. Kreiseinteilung.
Aus Neustadt a. O. erhalten wir folgende Zuschrift:
Es war zu erwarten, dass nachdem die Pläne der Kreiseinteilungskommission, die im Gegensatz zu Mittel- und Westthüringen – in Ostthüringen – eine wesentliche Aenderung der bisher bestehenden Kreiseinteilung vorsehen, bei denen besonders die bisherigen reussischen Gebietsteile Gera und Greiz und der schwarzburgische Bezirk Rudolstadt begünstigt sind, in den betroffenen Kreisen seitens der Interessenten zahlreiche mögliche und unmögliche Gegenvorschläge laut werden würden. Dies musste eintreten, nachdem die neuen Vorschläge, die bisherige Grundlage der Kreiseinteilung verlassend und die bisherigen Kreise teilend für Ostthüringen völlig neue Grenzen gezogen haben, ohne Rücksicht auf die bestehenden lebensfähigen Bezirke zu nehmen. Der Ehrgeiz von Rudolstadt, im neuen Thüringen der Mittelpunkt eines möglichst großen leistungsfähigen Kreises zu werden, lässt natürlich die benachbarte Stadt Pößneck nicht ruhen. Sie protestiert zwar wie alle Städte, die dem so gewaltsam gebildeten Kreis Rudolstadt angehören sollen, energisch gegen eine Einverleibung nach Rudolstadt, strebt aber eine Einbezirkung des Kreises Ziegenrück und die Einbezirkung von Gebietsteilen des Saalfelder und Neustädter Kreises an. Ein derartiges Gebilde würde eine genau so unglückliche Lösung werden, wie der geplante mittlere Saalekreis mit dem Sitz in Rudolstadt. Abgesehen davon, dass Pößneck der Raum zur Unterbringung von Kreisbehörden vollständig fehlen dürfte, erfüllt Pößneck mit seinem kleinen Amtsgerichtsbezirk von 14.000 Einwohnern ohne weiteres Hinterland und seiner wenig zentralen Lage garnicht die Voraussetzungen für eine Kreisstadt. Außerdem hat Pößneck ausgedehnte Industrie und dürfte hierdurch ans ich lebensfähig sein. Auch würde es nicht angängig sein, nach Saalfeld und nach Pößneck je eine Kreisverwaltung zu legen, oder glaubt man in Pößneck sogar an die Verlegung des Kreises Saalfeld nach Pößneck? Pößneck kommt u. E. als Kreisstadt solange nicht in Frage, als der Kreis Ziegenrück preußisch bleibt, und ehe hier eine Aenderung eintritt, dürfte noch eine lange Weile vergehen. (Vergleiche den Beschluss des Provinzialausschusses der Provinz Sachsen, der erst kürzlich jeden Gebietsaustausch mit Thüringen abgelehnt hat.) Auch in Schleiz möchte man bei der etwaigen Aufteilung des Neustädter Kreises freundnachbarlicher Weise nicht zu kurz kommen und meldet deshalb, obwohl man selbst aufgeteilt werden soll, schleunigst Forderungen an. Man geht in Schleiz ganz besonders großzügig vor. Man rechnet dort für Ostthüringen überhaupt nur noch mit 2 reussischen Kreisen: Gera und Schleiz. Schleiz beansprucht neben seinen bisherigen Gebieten (Schleiz, Hirschberg und Lobenstein) die Amtsgerichtsbezirke Auma und Neustadt-Orla, die Pflege Reichenfels und Zeulenroda. Nach dem offiziösen Plan sollte Triptis, Auma und Weida nach Gera – Land – Ronneburg oder aber Weida nach Greiz zugeteilt werden. Gegen solche freundnachbarlichen Absichten, wie sie in Pößneck, Rudolstadt, Schleiz und Gera laut werden, muss selbstverständlich der Neustädter Kreis in seiner Gesamtheit mit allen seinen Parteien, Genossenschaften und Verbänden Stellung nehmen. Der Zankapfel, der dadurch, dass der offiziöse Plan der Einteilung Ostthüringens die natürliche und historische Entwicklung vollkommen außer Acht gelassen hat, unter die Beteiligten geworfen ist, beginnt zu wirken. Ein jeder der Interessenten bemüht sich, nachdem die Grenzen flüssig geworden sind, ohne Rücksicht auf die berechtigten lebensnotwendigen Interessen des Nachbarn herauszuholen, was nur herauszuholen geht. Dies kann und muss im Interesse der gedeihlichen Weiterentwicklung des Thüringer Zusammenschlusses unbedingt vermieden werden. Die beteiligten Kreise sollten sich nicht gegenseitig zerfleischen, sondern unter Ausgleich der bestehenden wirklichen Gebietszersplitterungen gegenseitig bestrebt sein, die bisherigen Gebiete zu erhalten. Dies ist ohne weiteres möglich, wenn man den Vorschlägen von Müller in dessen Broschüre „Thüringen als Verwaltungseinheit” – Verlag Gebr. Richter, Erfurt – folgt, die jedem Interessenten zu eingehendem Studium empfohlen werden kann. Dort sind für Mittel- und Ostthüringen folgende Kreisbildungen vorgesehen, die sich viel glücklicher, wie die offiziellen Pläne den bisherigen Verhältnissen und den wirtschaftlichen Bedürfnissen der Bewohner anpassen: Kreis Rudolstadt bisheriger Kreis Rudolstadt auschl. Leutenburg einschl. des ehemaligen Sondershäuser Gebiets um Arnstadt mit dem Sitz in Rudolstadt (47.000 Einw.), Kreis Saalfeld einschl. Bezirk Leutenberg, Amtsgerichtsbezirk Pößneck (63.000 Einw.), Kreis Schleiz bisheriges Gebiet (49.000 Einw.), Kreis Neustadt-Orla bisheriges Gebiet (60.000 Einw.), Roda bisheriger altenburgischer Westkreis (64.000 Einw.), Kreis Apolda-Land bisheriger 2. Verwaltungsbezirk (außer Jena und Apolda-Stadt) (62.000 Einw.), Gera-Land, Ronneburg, Gera, außer Stadt Gera und Bezirk Ronneburg (76.000 Einw.), Greiz-Land bisheriges Gebiet (60.000 Einw.), Altenburg-Land (62.000 Einw.).
Sämtliche Interessenten, denen an einer glatten und reibungslosen Lösung der Gebietseinteilungen in Ostthüringen, namentlich in den Bezirken, deren Aufteilung in Frage steht, (Roda, Neustadt, Schleiz) gelegen ist, müssen für diese Vorschläge einstehen und fordern, dass die Kreiseinteilungskommission und der Staatsrat von Thüringen diese Vorschläge zur Grundlage ihrer weiteren gesetzgeberischen Arbeit machen. – d.
Quelle:
Jenaische Zeitung vom 12.10.1920
In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00277666/JZ_Jenaische_Zeitung_169419428_1920_10_0067.tif?logicalDiv=jportal_jpvolume_00376238
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Verwaltungsgliederung_Th%C3%BCringens#/media/Datei:GliederungThueringen1922.svg