„Die neue Schule muß weltlich sein.“
Mit der Gründung der Weimarer Republik lebt die Schulreformbewegung auf. Schon im 19. Jahrhundert waren vielfältige Reformkonzepte – wie dasjenige von Johann Heinrich Pestallozi – ausgearbeitet und erprobt worden. Nun trommelt vor allem das sozialistische Lager für die konfessionsfreie, weltliche Schule und beruft sich dabei auf Artikel der Weimarer Reichsverfassung.
Die neue Schule und die soziale Erziehung.
Von Fritz Länge-Köln.
Es wird in der letzten Zeit sehr viel von der Verrohung der Schuljugend geredet. Die Mittel, die man gegen sie erfindet, sind in den meisten Fällen polizeilicher Natur. Man lebt eben noch zu sehr im alten Polizeigeiste, und in diesem Geiste glaubt man in der alten Schule die Erziehungsfragen lösen zu können. Dieser Polizeigeist mißachtet die Individualität. Er wirkt nur von oben und betrachtet das Kind als Objekt, das für die egoistischen Zwecke einer Machtgruppe von Menschen ausgenutzt werden soll. Weil so alle Individualität mißachtet wird, beschränkt sich die unterrichtliche Einwirkung auf die Dressur, bei der jegliche individualistische Produktivität abgetötet werden muß. Und dieses geschieht am wirksamsten durch den Konfessionalismus und Dogmatismus. Die Schule wird zur konfessionellen Schule, und weil sie im Dienste des egoistischen Machtprinzips steht, das in der alten Gesellschaft im Feudalismus, Monarchismus, Kapitalismus, Militarismus, Imperialismus in die Erscheinung tritt, ist die alte Schule die konfessionell-kapitalistische Schule, die in ihrem Unterrichtsbetrieb eine Dressur- oder, wie man sagt, eine Lernschule ist. Gesetzlich haben wir diese Schule in Preußen als Produkt des kapitalistischen Dreiklassenparlaments im Schulunterhaltungsgesetz von 1906, durch das der Konfessionalismus in unsern Volksschulen verankert ist.
Eine zweite Gruppe sucht der Verrohung durch wirkliche Erziehung nahe zu kommen. Sie beschränkt sich nicht darauf, die Verrohung als eine gegebene Tatsache hinzunehmen, sondern sie spürt den psychologischen Ursachen nach.
Aber nur den psychologischen und nicht den soziologischen und das ist unser Verhängnis. Diese Gruppe, die sich mit Recht zu den Pädagogen rechnet, beachtet die Individualität und psychologisiert Erziehung und Unterricht im Gegensatz zur Dressur. Sie wirkt auch nicht konfessionell, wenn auch einer ihrer Vertreter, Dörpfeld – aus der Herbart-Zillerschen Schule hervorgegangen – für die protestantische Schule eintritt. Er erkennt eben im Protestantismus den Individualismus und will den Geist in der Freiheit emporbilden. Aber die Vertreter der Individualpädagogik, so nennt man diese Richtung, mißachten wie gesagt, die soziologischen Beziehungen der Menschennatur und verfehlen damit eine Erziehung zum sozialen Menschen. Sie kommen über die Grenzen, die die vier Schulwände zeichnen, nicht hinaus, gehen nicht in die Gesellschaft das heißt: ins Elternhaus, in die Gemeinde, den Staat, die Menschheit, und ordnen nicht das Ziel der Erziehung den Bedürfnissen dieser Gemeinschaften unter. Diese Individualpädagogen sind Schulpädagogen in des Wortes materieller Bedeutung. Man nennt die Individualpädagogik unsozial, unsittlich, weil sie einem ziellosen Intellektualismus frönt, der sich nur zu leicht mit dem Egoismus verehelicht und das Machtprinzip ins Ungemessene stärkt. Und diese Verehelichung ist um so naheliegender, als unser gesamtes Schulwesen zu einer wahnsinnigen Ueberschätzung der Kopfarbeit gegenüber der „gemeinen“ Handarbeit geführt hat. Ein Umstand, der unsere Kultur der völligen Entartung entgegentreibt. So sehen wir, daß es auf der Bahn der Individualpädagogik vom – sagen wir – überwundenen Kapitalismus zum Intellektualismus führt, der so menschenvernichtend und so weltvernichtend werden kann, daß der hinter uns liegende Krieg als Kulturzerstörer dabei in den Schatten tritt. So wird es kommen, wenn dem Intellektualismus nicht früh genug das Wasser abgegraben wird durch den Sozialismus. Nicht „freie Bahn dem Tüchtigen“ im Sinne des Intellektualismus ist die Parole. Nicht der gescheite Mensch ist die Krone der Schöpfung und darf somit nicht das Ziel der Erziehung sein. Der wütendste Kapitalist, der niederträchtigste Schieber, der rücksichtsloseste Militarist ist „tüchtig“. Der gute Mensch, das heißt der soziale Mensch, muß das Ziel der Erziehung sein. Und so kommen wir zu der dritten Gruppe.
Die Pädagogik dieser Gruppe ist die Sozialpädagogik. Ihr Altmeister ist der Schweizer Johann Heinrich Pestalozzi, der Erzieher der Menschheit, wie ihn die Geschichte nennt. Der Sozialpädagoge sucht die Ursache der Verrohung in den Krankheitskeimen der Gesellschaft. Der Verfasser von „Lienhard und Gertrud“ und „Christoph und Else“ findet sie zunächst im Familienleben. Von dort gehts in die Gemeinde, den Staat, die Menschheit. Dort findet der Sozialpädagoge, der Menschheitspädagoge sein eigentliches Arbeitsfeld. Dort führt er die wichtigste Aufgabe aus, das Ziel der Erziehung aufzustellen. Es kann so heißen: „Jeder Deutsche hat unbeschadet seiner persönlichen Freiheit die sittliche Pflicht, seine geistigen und körperlichen Kräfte so zu betätigen, wie es das Wohl der Gesamtheit erfordert.“ (Artikel 163 der Deutschen Reichsverfassung vom 11. August 1919.) So sehen wir, daß der Weg über die Individualpädagogik zur Sozialpädagogik führen muß, wenn wir zum guten Menschen, das heißt, zum sozialen Menschen kommen wollen. Auf die Schule angewandt, lautet das Ziel des Sozialpädagogen: „In allen Schulen ist sittliche Bildung, staatsbürgerliche Gesinnung, persönliche und berufliche Tätigkeit im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung zu erstreben.“ (Artikel 148 der Deutschen Reichsverfassung vom 11. August 1919.)
Der Weg zu diesem Ziele beginnt in der Einrichtung der Schulgemeinde. Zu der Schulgemeinde gehören die Eltern. Die Mitarbeit der Eltern an der Erziehung in der Schule bedeutet die Voraussetzung und den Anfang des Gelingens der sozialpädagogischen Arbeit am Menschengeschlecht. Es ist der Geist des Machtstandpunktes der bisher herrschenden Gruppen in der Gesellschaft und der Schule und mit ihm sind es die, die über die Individual- und Schulpädagogik nicht hinauskommen, die den Elternbeiräten widerstreben. Für den Sozialpädagogen dagegen sind sie die Bahnbrecher einer neuen Schule.
Das methodische Prinzip, das zum Erziehungsziel der Sozialpädagogik führt, ist das der Arbeit. Nur die Arbeit kann Werte schaffen, die der Allgemeinheit nützen, während der Intellektualismus nur dem Einzelnen dient und die Dressur gar nur zu Machtzwecken ausnutzt. Die neue Schule muß die Arbeitsschule sein. Arbeit ist Produktion. Ihre Quelle ist die Initiative der Persönlichkeit. Ihr Todfeind ist der Konfessionalismus, weil er ein fertiges System, das die Herrengruppe schafft, aufzwingt. Darum fort mit der konfessionellen Schule. Die neue Schule muß weltlich sein.
Quelle:
Neue Zeitung vom 24.10.1920
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Heinrich_Pestalozzi#/media/Datei:Pestalozzi.jpg