100 Jahre Thüringen
Staatskanzlei Thüringen Weimarer Republik e.V. Forschungsstelle Weimarer Republik an der Uni-Jena

Ein Blick ins Ausland

Die britische Nachkriegswirtschaftspolitik war gespalten zwischen den Positionen des Protektionismus und des Freihandels. Es kam zu zahlreichen Arbeitskämpfen, die im wirtschaftlich stark angeschlagenen Bergbausektor ihren Anfang fanden.

David Lloyd Georg - britischer Premierminister von 1916 bis 1922

Verhandlungen im britischen Bergarbeiterstreik.

Es stand zu erwarten, daß der englische Bergarbeiterstreik diesmal nicht in ruhigen Formen verlaufen würde. Die Erbitterung unter den Bergarbeitern hatte außerordentlich zugenommen, und die Taktik der Bergwerksbesitzer und der Regierung war rechtzeitig bemüht, sich auf einen längeren Kampf einzurichten. […] So war beispielsweise für den Verkehr im Falle des Stollstandes der Eisenbahn ein ausgedehnter Automobilverkehr rechtzeitig organisiert worden. Es kann kaum einem Zweifel unterliegen, daß die englischen Grubenbesitzer und die Regierung den festen Willen hatten, diesmal den Kampf durchzuhalten. Die Gründe dafür waren mannigfach. Vielleicht war die Forderung der Bergarbeiter auf eine Zulage von 2 Schilling pro Kopf und pro Tag noch nicht einmal der ausschlaggebende Grund, wenn auch eine neue Steigerung des Kohlenpreises dadurch unausbleiblich geworden wäre, was im Augenblick für die Konkurrenzfähigkeit der englischen Industrie nicht gleichgültig ist. Aber für die Stellungnahme der Regierung waren politische Gründe dafür bestimmend, daß man die Arbeiterkassen jetzt einmal leerlaufen lassen wollte. Die Gewerkschaften, die ja in England sozusagen selber eine politische Partei sind, rüsten für die nächsten Parlamentswahlen. Nach dem untrüglichen Symptom der Nachwahlen und dem neuen erweiterten Wahlrecht sind die Aussichten der Arbeiterparteiler so gut, daß selbst Regierungsmitglieder damit rechnen, daß die beiden Arbeiterparteien für sich allein die Mehrheit erzielen könnten. […] Man war schon geneigt, Lloyd George unter Umständen durch Sir Edward Grey zu ersetzen. Jetzt erhofft man alles von dem Aderlaß der Gewerkschaften. Aber auch die Arbeiterparteiler sind gute Taktiker. Sie sind sich ihrer Macht bewußt und treffen nüchtern ihre Gegenzüge. Zunächst besteht in England seit geraumer Zeit ein enges Verhältnis der Bergarbeiter, Transportarbeiter und Eisenbahner. Dieser gewerkschaftliche Dreibund hat schon wiederholt das Gewicht seiner Macht in die Waagschale geworfen. Auch jetzt haben die Eisenbahner und Transportmitarbeiter sich von vielen Orten für einen Solidaritätsstreik mit den Bergleuten ausgesprochen. Die Konferenz der Eisenbahner benutzt ihren Beschluß, in den Streik einzutreten, zu einem wichtigen Druckmittel auf die Regierung und die Arbeitgeber; denn sie erklärt, den Streik nur dann beginnen zu wollen, wenn es vorher zwischen der Regierung und den Bergarbeitern nicht zu Verhandlungen kommt. Dieser Druck hat offenbar seine Wirkungen nicht verfehlt. […] Aber in Wahrheit liegen die Dinge so, daß die Regierung jetzt sicher mit den Bergleuten erneut in Verhandlungen treten wird.

Die Aussichten für eine friedliche Beilegung des Konfliktes sind damit gegeben. Die Regierung widerstrebt auch nicht mehr grundsätzlich einer Lohnerhöhung. Sie macht diese nur abhängig von einer Steigerung der Erzeugung, und man kann sicher sein, daß die Bergarbeiterführer die Verhandlungen an dieser Forderung nicht werden scheitern lassen. So darf man mit einem baldigen friedlichen Ausgang rechnen.

Quelle:

Jenaer Volksblatt vom 23.10.1920

In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00273722/JVB_19201023_250_167758667_B1_001.tif

 

Bild:

https://de.wikipedia.org/wiki/David_Lloyd_George#/media/Datei:David_Lloyd_George.jpg