Feindliche Brüder
Sowohl die MSPD als auch die USPD halten einen Parteitag ab. Das linksliberale Jenaer Volksblatt kommentiert die Umwälzungen im sozialistischen Lager. Während die MSPD wenig Neues beschlossen und sich ansonsten in utopischen Versprechungen ergangen hätte, habe die USPD ein Bild des Grauens geboten. Neben der Gewaltverherrlichung durch die Unterstützer der Kommunistischen Internationale habe es nur vereinzelte couragierte Stimmen gegeben.
Nach den sozialdemokratischen Parteitagen.
(Von unserem Berliner Mitarbeiter.)
Die sozialdemokratischen Parteitage sind zu Ende, und der Chronist hat nun die Pflicht, das Fazit zu ziehen. Für die Mehrheitssozialisten hat sich eine Lage ergeben, die dieser Partei aufs Neue das Schweineglück beschert, das sie früher sprichwörtlich ihr eigen nannte. Aber freilich in ganz anderem Sinne. Die Zersetzung der Konkurrenzpartei zur Linken führt der Mehrheitssozialdemokratie die denkenden Arbeiter wieder zu. Die Partei muss sich bemühen, die neuen Scharen festzuhalten und darüber hinaus noch anziehungskräftig zu bleiben. Das ist sicher kein ganz einfaches Problem! Die Kasseler Ergebnisse sind nicht überragend. Man kann gewiss anerkennen, dass die Mehrheitssozialisten für die aktuelle Politik allerlei annehmbare Formeln gefunden haben. Sie haben ihrem Wiedereintritt in die Regierung den Weg geebnet. Ihr Bekenntnis zur Reichseinheit und zu den politischen Gegenwartsfragen ist in allerlei geschickten Resolutionen niedergelegt. Aber über diese Fragen der Taktik hinaus ist es der Partei nicht gelungen, zu einer programmatischen Einheit zu gelangen. Hier ist alles im Fluss. Für konkrete Fragen fehlt jede Lösung. Selbst über die Sozialisierung der Bergwerke hat der Parteitag einen klaren Weg nicht aufzuzeichnen gewusst. Es blieb hier bei Schlagworten und allgemeinen Redensarten. Der Streit für und gegen die Planwirtschaft ist lange hin und her gegangen, aber er wurde nicht entschieden. Alle Programmentwürfe und Anträge sind in einer Kommission beigesetzt worden, aus der sie wer weiß wann zu einem Einheitsbrei erstehen werden. Inzwischen hilft man sich mit der berühmten Formel vom Sozialismus als Endziel. Da wir aber die Privatwirtschaft brauchen, sofern eine Wiedergutmachung möglich sein soll, da ferner der Sozialismus nur als internationale Wirtschaftsregelung denkbar ist, in den anderen Ländern dafür aber noch alle Voraussetzungen fehlen, so ist das sozialistische Endziel in Wahrheit um Menschenalter vertagt. Für die Gegenwart bleibt nur eine praktische Reformpolitik, die man sich selber erschwert, indem man sie mit utopischen Forderungen verquickt und Hoffnungen nährt, die man nicht erfüllen kann. Nur wenn die Sozialdemokratie sich mit beiden Füssen auf den Boden der Gegenwart stellt, den nationalen und Staatsnotwendigkeiten sich nicht entzieht, kann sie Fruchtbares leisten. Je stärker sie dabei die Massen erzieht, um so fester wird sie in dem denkfähigen Teile der Masse wurzeln.
Gab es in der Kasseler Wüste immerhin Oasen und erfreuliche Ausblicke, so bot das Bild von Halle fast nur abstoßende Züge. Die Art., wie die Russen selbst die Moskauanhänger en canaille behandelten, wie Sinowjew und Losowski die Gewerkschafter als schlimmer hinstellten denn die Weißgardisten und Orgeschleute, und wie die Gewerkschaftler, des linken Flügels diese Beleidigungen ruhig einsteckten, das konnte nur Verachtung und nicht einmal Mitleid erregen. Der russische Menschewistenführer Martow war entschieden die ästhetisch erfreulichste Gestalt auf dem ganzen Hallenser Parteitag. Er schleuderte dem Vorsitzenden der dritten Internationale, Herrn Sinowjew, mutig den Menschenschlächter ins Gesicht, und Hilferding und Longuet zeigten den geistigen Abstand zwischen asiatischer Barbarei und westländischer Utopie. Der Rest der U.S.P., der nach Halle verblieben ist, mag sich künftig stolz das Zentrum nennen. Es wird nicht lange dauern, so klaffen auch in ihm die Gegensätze auf. Crispien und Lebebour sind nicht nur Männer der revolutionären Phrase, sondern sie scheuen gegebenenfalls auch nicht, revolutionäre Taten zu begehen, um in den Massen die alte Barrikadenromantik zu erhalten. Das ist nicht nur ein Verbrechen am Staate, sondern auch an der Arbeiterklasse. Ihnen stehen Männer mit Besinnung, wie Kautsky und Hilferding, gegenüber, die noch an dem demokratischen Wege für die Erringung des Sozialismus festhalten. Der Kommunismus ist gewiss in sich nicht einheitlich. Aber die verbrecherischen Gewaltmenschen in ihm verfügen jetzt über starke Kräfte einer blinden Masse. Für den Staat ergeben sich aus dem Hallenser Ausgang schwierige Probleme. Er wird sie lösen müssen und er kann das auch, wenn er Demokratie mit vermehrter Staatsautorität zu vereinbaren weiß. Mehr denn je wird der Ausgang davon abhängen, ob es gelingt, die demokratischen Elemente im Bürgertum zu einer tatfrohen und autoritären Politik zusammen zufassen.
Quelle:
Jenaer Volksblatt vom 18.10.1920
In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00273717/JVB_19201018_245_167758667_B1_001.tif
Bilder:
https://en.wikipedia.org/wiki/Independent_Social_Democratic_Party_of_Germany#/media/File:Paul_Halke_(1920)_Der_Russische_Schwabenstreich.png
https://de.wikipedia.org/wiki/Julius_Martow#/media/Datei:MartovW.jpg